Der belgische Regisseur Ivo van Hove, der in den letzten Jahren in Wien für Römische Tragödien, Szenen einer Ehe und Faces gefeiert wurde, hat den berühmten Film Opening Night von John Cassavetes an seinen Ursprungsort übertragen: das Theater. Es ist ein klassischer Backstage-Stoff mit einer existentiellen Geschichte. Erzählt wird die Lebenskrise der berühmten Schauspielerin Myrtle Gordon kurz vor der Premiere des Stücks The Second Wife. Ihr gelingt es nicht, sich einzugestehen, dass sie gealtert ist. Die Rolle einer Frau, die die besten Jahre hinter sich hat, wird für Myrtle zu einem Ritt durch eine Hölle von Selbstzweifeln, Angst, Einsamkeit und Alkohol. Die Krise ist so elementar, dass sie die ganze Theaterfamilie, vom Regisseur bis zum Inspizienten, mit sich reißt und das gesamte Projekt gefährdet. Als keiner mehr an sie glaubt, nimmt sie in einem schmerzhaften Prozess Abschied von ihrem jungen Selbstbild – und feiert bei der Premiere einen Riesenerfolg.
Wie oft bei Ivo van Hove sitzt ein Teil der Zuschauer mit auf der Bühne. Das Publikum nimmt sehr authentisch am Arbeitsprozess von allen ständig anwesenden Künstlern und Technikern teil und erlebt die hochemotionalen Grenzüberschreitungen zwischen Privatem und Beruf.
In dreieinhalb Stunden sieht man Menschen beim Leben zu und wie die Zeit vergeht. Auf der Bühne stehen egomane, nervöse Menschen von hier und heute, die, gefangen in einem schmalen, lehmbeschmierten Kasten, ohne Fenster, ohne Tür, einander nicht ausweichen können.
Onkel Wanja ist Tschechows bitterstes Stück: Wanja, ein hellsichtiger, aber energieloser Mensch, verwaltet mit seiner Nichte Sonja das Landgut des Mannes seiner verstorbenen Schwester. Der ist Professor in der Stadt und mit der attraktiven jungen Elena neu verheiratet, die auch Wanja, und nicht nur der, über alle Maßen begehrt. Die Inszenierung lässt miterleben wie das eingespielte Gefüge aus Gefühlen und gegenseitigen Erwartungen aus der Balance gerät. Am Ende bleibt die Einsicht, dass das Leben nur noch daraus bestehen wird, zu warten, dass es endlich vorbei ist.
Goschs Onkel Wanja, eingeladen zum Berliner Theatertreffen, wurde in der Zeitschrift Theater heute mit großem Vorsprung zur „Inszenierung des Jahres 2008” gewählt. Ulrich Matthes wurde für seine Darstellung des Wanja, Jens Harzer für den Astrow zum „Schauspieler des Jahres” gewählt. Constanze Becker, „Schauspielerin des Jahres”, spielt die Elena. Zudem erhielt Ulrich Matthes den Theaterpreis „Faust”.
In der Halle E im MuseumsQuartier!
Olga ist verzweifelt. Die berühmte Schauspielerin ringt um Worte. Diese Rolle will ihr einfach nicht gelingen. Tschechows Kirschgarten soll probiert werden. Sie, die Witwe Tschechows, hat selbst die Hauptrolle übernommen. Mascha, seine Schwester, und ein junger Star, Aleko, sind dabei. Sonst hat es kein Schauspieler ins Theater geschafft. Draußen mordet die Revolution. Drinnen werden alle von ihren Gefühlen überwältigt: Aleko gesteht Olga schnell noch seine heimliche Liebe, und Mascha will mit Waffengewalt für die Gerechtigkeit kämpfen. Olga kann sich nicht konzentrieren. Das Theater ist am Ende. Da greift das Stück des jungen chilenischen Autors Guillermo Calderón ein: Geschickt legt er seinen Schauspielern authentisches biografisches Material, Zitate von Tolstoi, Dostojewski und Tschechow, gemischt mit Zeitzeugenberichten in den Mund und verhilft den drei verlorenen Gestalten auf ihrer Bühne zu virtuosem Spiel. Dieses ist einerseits verstörend und komisch wie bei Tschechow selbst. Andererseits führt es das Publikum aus dem Theater hinaus, ins Persönliche, ins Politische, ins Heute hinein und erzählt von der Kraft des Theaters selbst.
Viel wissen wir nicht über Serge, eigentlich nur, dass er Spezialeffekte liebt. Sein schmuckloses Apartment ist seine Erfinderwerkstatt. Dort lagern Tischtennisbälle, ein ferngesteuertes Auto, Drähte, Wunderkerzen. Serge besitzt auch eine Stereoanlage und Bücher. Wenn er jeden Sonntag Punkt 18 Uhr Freunde zu sich einlädt, müssen die Gäste auf dem Boden Platz nehmen, um die Dreiminutenshows zu erleben, die der etwas spröde Gastgeber erfindet. Kleine Techniktüfteleien, verspielte, flüchtige Realitätsirritationen, die das langweilige Szenarium des Sonntagnachmittags unterbrechen. Aber dann sind die unspektakulären Aufführungen auch schon wieder vorbei. Gaëtan Vourc’h, ein Meister der Natürlichkeit auf der Bühne, spielt Serge. Er tritt zuerst als Astronaut auf, da das Vorgängerstück so geendet hat – denn Quesnes neue Projekte setzen immer dort an, wo die alten aufgehört haben. Und dann führt er uns in die fabelhafte Welt von Serge, in der Publikumsliebling Hermès natürlich auch wieder eine wichtige Rolle spielt.
Philippe Quesne und seine langjährigen Weggefährten des Vivarium Studio lieben das Understatement. Ihre Theaterverweigerung sorgt für große Glücksmomente beim Betrachter. Es ist armes, aber im wahrsten Sinne des Wortes innovatives Theater: komplex und einfach, ernsthaft und unterhaltsam, in der französischen Theaterlandschaft einzigartig.
Bald wird die Stadt von fremden Truppen zerstört sein. Trinidad fordert ihren Bruder Jorge, der Soldat ist, auf zu desertieren. Die jüngere Schwester Paula will ihn in den kämpfenden Untergrund bringen. Doch Jorge hat andere Pläne. Es ist Heiliger Abend 2014. Als der Belagerungsring um die Stadt fest geschlossen ist, fällt auch noch der Strom aus. Und genau in diesem Moment erscheint der Weihnachtsmann.
Die bitterböse Komödie des Teatro en el Blanco von der Zukunft Südamerikas machte beim Festival Iberoamericano in Cadiz Furore. Der junge Chilene Guillermo Calderón sieht die Welt von morgen in einem Krieg der Völker versinken. Brasiliens Truppen brechen zum Pazifik durch und Bolivien gibt es schon lange nicht mehr. Doch was den Regisseur und Autor interessiert, ist die innere Verfassung seiner eigenen Nation, ihr irrationaler Rassismus. Das Stück erzählt von der Zerstörung der Welt von innen heraus. Vom Tod der kleinsten menschlichen Zelle der Gesellschaft, der Familie, gespielt von drei virtuosen Akteuren in zahlreichen Rollen.
Im Zentrum der Arbeit der Gruppe steht die Entwicklung eigener Texte, die eine unmittelbare Theatersprache hervorbringen. Teatro en el Blanco, was frei übersetzt so viel heißt wie „Theater trifft ins Schwarze“, ist damit eine unverwechselbare Stimme in der gegenwärtigen Kulturszene Chiles geworden.
Es ist eine Sprechsymphonie in Hochgeschwindigkeit, in der musikalisch rhythmisch skandiert mit Chorintermezzi, Soli, Duos, Trios der tragische Konflikt um Staatsraison, Religion und weibliche Rebellion als furioser Schlagabtausch stattfindet.
Acht junge Frauen und Männer erzeugen in einer Sprach-Licht-Körperchoreographie die Angst des Volkes meinungsloser Gutmenschen und die fast physische Bedrohung durch eine nicht hinterfragbare Macht. Kreon erscheint als moderner hemmungsloser Demagoge, Antigone wird mit Steinigung bedroht und die neu hinzuerfundene Figur der Eurydike, von der Regisseurin selbst gespielt, wird zur Rächerin der verfolgten Frauen. Der Ausdruck der in schwarze enge Tops gekleideten Spieler ist ein düsterer gefährlicher Rap. Die entschiedene Form macht diese Istanbuler Aufführung zu etwas sehr Neuen und Fremden.
Die Regisseurin, Autorin und Schauspielerin ŞahikaTekand hat in 17 Spielfilmen gespielt und mit verschiedenen Regisseuren gearbeitet, bevor sie 1988 in Istanbul ihre eigene Kompanie Studio Oyuncuları (The Studio Players) gründete, die seit einigen Jahren international zu den bekanntesten türkischen Theatergruppen zählt.
Ein leitender Angestellter im libanesischen Finanzministerium wird von seiner Frau als vermisst gemeldet. Er ist spurlos verschwunden. Ist er zu einer Geliebten ins Ausland gezogen? Oder liegt ein Gewaltverbrechen vor? Gleichzeitig verschwindet, ebenfalls spurlos, ein Koffer mit Geld. Jeden Tag erscheinen neue, widersprüchliche Zeitungsmeldungen über den Fall, vertröstende Statements von offizieller Seite, emotional aufgewühlte von der Familie.
Autor, Regisseur und Performer Rabih Mroué aus Beirut übernimmt die Rolle eines Detektivs: Er verfolgt die Berichterstattung, sammelt akribisch alle Artikel und dokumentiert die immer unübersichtlicher werdenden Geschehnisse. Und ganz nebenbei entfaltet er mit subtiler Komik ein haarsträubendes Bild des enggewobenen Netzes der Korruption und Intransparenz der libanesischen Politik, Wirtschaft und Medien. Mroué selbst ist dabei ein präsenter Abwesender, ein packender Live-Erzähler und TV-Moderator – ausschließlich auf einem Bildschirm. Auf einem anderen verfolgen wir, wie ein Illustrator die Geschehnisse live protokolliert: Ein Wisch und schon entsteht ein ganz anderes Bild. Politisches Theater über die Halbwertszeit von Wahrheit.
Das Buch, das die Ware und ihre Wertform, das Geld, die Arbeit und die Wertschöpfung analysiert, das Sergej Eisenstein (allerdings alle drei Bände) verfilmen wollte und nicht durfte und in dem so schöne Sätze stehen wie: „Das Kapital ist verstorbene Arbeit, die sich nur vampirmäßig belebt durch Einsaugung lebendiger Arbeit …“ (Kapital Bd. I/III, 8).
In eine Bibliothek mit Plattenspieler, Fernseher und anderem Arbeitszubehör haben die Riminis acht Spezialisten des Alltags eingeladen, von denen zwei tatsächlich Spezialisten für Karl Marx’ Kapital sind, die meisten eher Spezialisten für Geld: Einen Blinden mit einer großen Schallplattensammlung, der durch den Abend führt und der das Kapital in Blindenschrift vorlesen kann, einen Wissenschaftler und Kenner des Werkes, einen Mitbegründer des Kommunistischen Bundes Westdeutschlands und heutigen Unternehmensberater, der seinerzeit auf der Straße Geldscheine verbrannte, einen Spielsüchtigen, einen Autor von Spekulantenbiografien, einen lettischen Filmregisseur, die Übersetzerin der Biografie von Boris Jelzin und einen jungen Aktivisten der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend mit seinen heutigen, neuen Forderungen. Indem die Experten von ihrem Leben, ihrer Arbeit und ihren Erlebnissen berichten, entsteht unterhaltsam und berührend ein Kaleidoskop der Wirkung dieses Buches auf die Welt.
In der Halle G im MuseumsQuartier!
Erzählt wird die tragische Geschichte eines kleinen Versicherungsmaklers, der für Geld und für eine Frau einen Mord begeht und dann weder die Frau noch das Geld bekommt. Neff bewohnt ein schäbiges Apartment. Er verliebt sich in die schöne Frau eines reichen Mannes, dem er eine Unfallversicherung verkaufen wollte. Daraus wird eine Lebensversicherung mit Höchstprämie. Der Mord, den das Liebespaar als Unfall tarnt, ist perfekt. Aber die Frau wird ihn verlassen. Neff hat einen besten Freund und Arbeitskollegen, der darauf spezialisiert ist, Kunden Versicherungsbetrug nachzuweisen. Er wird den Mörder überführen und seinen Freund verlieren. Bei Billy Wilder kommt Neff auf den elektrischen Stuhl. Bei Johan Simons ist die Welt schlechter: Die Versicherungsfirma kann sich einen Angestellten als Mörder nicht leisten. Der Mord wird zwei jungen Leuten in die Schuhe geschoben, der Angestellte Neff wird einer Gehirnwäsche unterzogen.
Simons erzählt die Geschichte aus der Perspektive des Mörders. In einer unaufwändigen und bewegenden Inszenierung mit zehn großartigen Schauspielern, ein paar Möbeln, Cinema-Noir-Ästhetik und a cappella gesungenen Dreißigerjahre-Songs wird der Krimi zum gesellschaftlichen Fall und zur Tragödie.
In der Halle G im MuseumsQuartier!
Das berühmte Lustspiel, in dem ein Dorfrichter in einem von ihm geführten Prozess sich selbst wider Willen als Täter entdeckt, das bei seiner Weimarer Premiere 1808 in der Regie von Goethe durchfiel und später zum Fest aller großen Schauspieler wurde, hat Peter Stein in einer scharfsinnig historisierenden Inszenierung mit Kleist’schem Aberwitz und Sehnen und politischem Sinn erfüllt.