Dennis Kelly's Stück Waisen beginnt mit einem extremen Bild: Liam steht blutüberströmt im Esszimmer, wo seine Schwester Helen und deren Mann Danny gerade bei einem Candle-Light-Dinner sitzen. Er habe einem jungen Mann geholfen, der bei einer Messerstecherei verletzt wurde. So lautet Liams erste Version dessen, was an diesem Abend vorgefallen ist. Doch schon bald verstrickt er sich in Widersprüche, und ein abgründiger Psychothriller beginnt, in dessen Verlauf sich die Grenzen zwischen Lüge und Wahrheit, Gut und Böse, Liebe und Hass immer mehr verwischen, und die moralische Überforderung schließlich in Zerstörung mündet.
Waisen ist in mehrfacher Hinsicht ein hoch politisches Stück. Neben realpolitischen Referenzen auf Abu Ghraib, den islamistischen Terrorismus und die damit verbundene zunehmende Islam und Ausländerfeindlichkeit greift Kelly darin gesellschaftspolitische Themen wie die Folgen der Immigration, urbane Isolation, Gewalt und unsere moralische Zerrissenheit im Zeitalter der political correctness auf. Vor allem aber führt dieses Stück vor Augen, dass Politik bereits in der kleinsten sozialen Einheit, der Familie, beginnt. Messerscharf analysiert Kelly die gesellschaftliche Entsolidarisierung und die Wiederkehr des, wie er es nennt, Tribalismus.
Regie, Bühne und Kostüme: Ramin Gray
Dramaturgie: Brigitte Auer
Mit Nicola Kirsch, Thomas Reisinger, Vincent Glander
Gastspiel des Schauspielhaus Wien.