Mit unvergleichlicher künstlerischer und technischer Virtuosität hat Ernst Ludwig Kirchner im Laufe seines Lebens etwa 2000 Holzschnitte, Lithografien und Radierungen geschaffen, davon zirka 200 in Farbe.
Unermüdlich experimentierte er mit verschiedenen Techniken und dem Einsatz von Farbe, um unterschiedliche Wirkungen zu erreichen. Zahlreiche Farbdrucke sind nicht von einer Platte entstanden, sondern die Ergebnisse aufeinanderfolgender Arbeitsgänge, in denen die verschiedenen Farben von mehreren Platten übereinander gedruckt wurden. Farbvarianten derselben Motive ermöglichten ihm das eingehende Studium der daraus resultierenden unterschiedlichen Wirkung der Grafiken.
Das Prinzip der Serie von Farbvariationen derselben Grafik wurde in den 1970er-Jahren von Andy Warhol aufgegriffen und in seinen Siebdrucken systematisch ausgebaut. Doch anders als Warhol war es Kirchner wichtig, nicht nur die Druckträger selbst herzustellen, sondern auch jeden Druck eigenhändig abzuziehen. So konnte er die Ergebnisse von Blatt zu Blatt und noch während des Druckens individuell beeinflussen und ausschließlich Unikate schaffen. Außerdem war er der Überzeugung, dass nur solche Drucke das Recht hatten, als Originalgrafik bezeichnet zu werden.
Die Ausstellung bietet die Gelegenheit, die unterschiedlichen Farbwirkungen ein und desselben Motivs im direkten Vergleich nebeneinander zu betrachten.
In den frühen Holzschnitten ab 1904 zeugen dekorativ geschwungene Umrisslinien und ein oft ornamenthafter Bildaufbau noch vom Einfluss des Jugendstils. Ein luftiger Farbauftrag lässt außerdem die Nachwirkung der impressionistischen Schule erkennen. Ab 1910 werden die Formen freier, die Konturen kantiger, der Stil wird „härter“. Die Geometrisierung der Formen geht auf Kirchners Faszination für die Kunst der Naturvölker zurück, die er im Dresdner Völkerkundemuseum gesehen hatte.
Die Lithografien wirken größtenteils unruhiger als die Holzschnitte, was durch einen skizzenhaften Strich und durch weniger gleichmäßige Farbflächen hervorgerufen wird. Die Technik des Steindrucks ermöglichte ihm noch größere experimentelle Freiheit als die des Holzschnitts. Er erfand sogar ein eigenes Verfahren, das es ihm ermöglichte, Farbdrucke von einem Stein mithilfe beliebig vieler Farbplatten herzustellen. Dieses Vorgehen entsprach für ihn dem der Malerei. Dabei spielte die Linie für Kirchner eine wichtige Rolle. Er versuchte, sie mit der Farbe zu verschmelzen, die Form aus der Farbe entstehen zu lassen. Teilweise druckte er die Umrisslinien farbig, oder er verzichtete auf
die Zeichnungsplatte. So gelang es ihm, zeichnerische mit malerischen Elementen zu vereinen.
Kirchner hat sich nie ganz von der figürlichen Darstellung gelöst. In den späteren Blättern wird der Strich allerdings freier, die Wirkung abstrakter, indem das Gegenständliche zugunsten farbiger Formen zurückgedrängt wird.
Kirchners intensive und experimentelle Auseinandersetzung mit der Druckgrafik zeigt, welch hohen Stellenwert dieses Medium in seinem Gesamtwerk einnimmt. Die mehr als 80 farbigen Blätter, die in der Ausstellung im Paula Modersohn-Becker Museum versammelt sind, geben dem Besucher die Gelegenheit, Kirchner als virtuosen Künstler und Meister der Druckgrafik zu entdecken. Denn wie schon 1920 Kirchner selbst unter seinem Pseudonym Louis de Marsalle sagte: „Nirgends lernt man einen Künstler besser kennen als in seiner Graphik.“
Leserkommentare
Zum Kommentieren kostenfrei registrieren oder anmelden.