Der St. Galler Klosterbezirk, UNESCO-Weltkulturerbe, ist seit sechs Jahren Austragungsort der St. Galler Festspiele. Dieses besondere Umfeld ist dem jungen Festival, das jährlich fast 13 000 Besucher in die Gallusstadt lockt, gleichermaßen Verpflichtung und künstlerische Anregung. Im Mittelpunkt steht jedes Jahr eine Oper, die auf den sakralen Ort Bezug nimmt.
Der Klosterhof vor der beeindruckenden Kulisse der St.Galler Kathedrale wird zur Bühne für die Festspieloper. Das Konzertprogramm greift thematische Aspekte der Opernproduktion auf und lässt sie in einem umfassenden künstlerischen Kontext lebendig werden. Zum Geheimtipp der Festspiele entwickelte sich der Tanz, der mit und in der Kathedrale einen spannungsvollen Rahmen findet.
Oper auf dem Klosterhof
Verdis packende Choroper I Lombardi alla prima crociata erzählt vor dem Hintergrund des ersten Kreuzzugs eine Geschichte voller Rache, Liebe und Vergebung. Die Schauplätze reichen von Mailand über Antiocha bis zum Heiligen Grab. Verdi schrieb I Lombardi unmittelbar nach seinem großen Erfolg mit Nabucco. Beide Opern enthalten beeindruckende lyrische und martialische Chorszenen, die einen eindrucksvollen Kontrast zu den spannungsreichen Einzelschicksalen der Protagonisten bilden. Als frühe Verdi-Oper weist I Lombardi in der Partitur deutliche Einflüsse seiner musikalischen „Belcanto-Väter“ Rossini, Bellini und Donizetti auf, während sie gleichzeitig ebenso deutlich bereits einen Ausblick auf das typische musikalische Idiom des späten Verdi gibt. Die Oper bezieht ihre starke Wirkung aus dem Reichtum und der Kraft ihrer zahlreichen kompositorischen Einfälle, sowohl in den Chorszenen, wie zum Beispiel in der Hymne der Kreuzfahrer und Pilger, als auch in Solo- und Ensembleszenen wie dem Gebet Giseldas im ersten Akt oder dem Finalterzett des dritten Akts.
Die Inszenierung erarbeitet der Schweizer Regisseur und Generalintendant des Theaters Erfurt, Guy Montavon, der durch die Leitung der Erfurter Domfestspiele über große Freilichterfahrung verfügt. Er ist Garant dafür, dass auch 2011 die Kathedrale ihren Teil zum Gelingen des Festspielbesuchs beiträgt: „Das Publikum will ja auch das fantastische Ambiente des Klosterhofs mit der Kathedrale genießen.“ Musikalisch wird die Aufführung vom italienischen Maestro Antonino Fogliani geleitet, der bereits zweimal bei den St. Galler Festspielen am Dirigentenpult überzeugte. Die Produktion entsteht in Kooperation mit den Domstufen-Festspielen in Erfurt, wo die Inszenierung ein Jahr später zu sehen sein wird.
Das große Thema in I Lombardi ist die Auseinandersetzung zwischen Morgenland und Abendland, die auch ganz aktuell die Welt in Atem hält. In Verdis Oper stehen die Kreuzritter als fanatisierte Glaubenskrieger vor Jerusalem, der Auftakt eines bis heute anhaltenden Aufeinanderprallens kultureller, weltanschaulicher und religiöser Systeme. Doch Konflikt bedeutet auch Begegnung. Und daraus folgt unweigerlich Austausch – damals wie heute. Orientalische Waren wurden während der ersten Kreuzzüge begehrte Luxusartikel in Europa, der Handel blühte, und im Zuge der kulturellen Interaktion fanden auch Streich- und Saiteninstrumente ihren Weg nach Mitteleuropa. Auf der Iberischen Halbinsel hatten zu diesem Zeitpunkt die Mauren längst eine blühende Hochkultur der Künste und Wissenschaften importiert.
Das Konzertprogramm
Der bedeutende katalanische Musiker und Forscher Jordi Savall zieht die Spreng- und Überzeugungskraft seines Programms „Orient und Okzident“ aus ebendieser Historie eines befruchtenden Miteinanders von westlichen und orientalischen Musikern, Instrumenten und Musikstücken. Die direkt neben dem Klosterbezirk liegende protestantische Kirche Sankt Laurenzen ist Aufführungsort für Jordi Savall sowie für die meisten Konzerte während der St. Galler Festspiele.
Die Liebe als emotionaler Zustand von Krieg und Agitation war beherrschender Topos der Künste der Spätrenaissance. Als sich in Italien um 1600 Musiker anschickten, mit neuartigem einstimmigem Gesang individuelle menschliche Gefühlsregungen nachzuzeichnen, griffen sie bevorzugt auf diese Dichtungen zurück und definierten damit die neuen Wege des Frühbarock. Oh felice morire des Ensembles Phoenix München entführt in diese fragil-faszinierende Welt des „recitar cantando“, des singenden Erzählens. Orgelmusik aus dem und über den Orient präsentiert „Orgel im Morgenland“ des St. Galler Domorganisten Willibald Guggenmos an der Orgel in der Kathedrale. Konzertmeister Igor Keller spielt im intimen Rahmen der Schutzengelkapelle Musik in ihrer reinsten Form, herausragende Werke „a violino senza basso accompagnato“ des Spätbarock von Johann Sebastian Bach und Heinrich Ignaz Franz Biber. Andreas Staier und Alexander Melnikov stellen in „Fenster zu Zeit“ Präludien und Fugen von Bach und Schostakowitsch, zeitlos-kristalline musikalische Gebilde an Cembalo und Flügel, gegenüber. Mit 15 Jahren erhielt das jüdische Wunderkind Felix Mendelssohn Bartholdy sein „Entréebillet zur europäischen Kultur“ (Heinrich Heine), die christliche Taufe. „Alles, was Odem hat, lobe den Herrn“ – protestantische oder eben allgemein europäische Spiritualität, Glaubenskraft und Erlösungssehnsucht sprechen aus seiner als Symphonie gezählten symphonischen Festkantate Lobgesang, im Festkonzert Abschluss und Höhepunkt des Konzertprogramms in der Kathedrale Sankt Gallen unter der Leitung von David Stern.
Tanz – Pert Em Hru
Pert Em Hru, die Komposition des Schweizers Paul Giger, entstand für den Raum der Sankt Galler Kathedrale und wird von Chorsängern, Instrumentalisten und Tänzern gemeinsam realisiert. Bereits in der Komposition hat Giger Bewegungsabläufe angelegt, die nun von der Tanzkompagnie zusammen mit den Chören weiterentwickelt werden. Ein altägyptisches Totenbuch gab dem Stück seinen Namen, der wörtlich übersetzt „Vom Heraustreten der Seele ins volle Tageslicht“ bedeutet. Marco Santi, Leiter der Tanzkompagnie, über die ungewöhnliche Zusammenarbeit mit dem Komponisten: „Vor 15 Jahren habe ich bereits eine Choreografie zu Paul Gigers Karma Shadub geschaffen. Diese wunderbare Komposition für Chor und Violine wird zusammen mit Pert Em Hru und Tropus ebenfalls in der Aufführung zu hören sein. Für meine Arbeit ist es natürlich faszinierend, Bewegungsabläufe zu einer Musik entwickeln zu können, in der die Bewegung und der Raum schon mitgedacht sind.“ Giger verwendet in seinen Kompositionen auch die dem Sankt Galler Mönch Notker Balbulus zugeschriebene Melodie media vita in morte sumus sowie im mittleren Programmteil den Tropus von Notkers Zeitgenossen Tuotilo. Beides entstand und erklang vor über 1000 Jahren im Sankt Galler Klosterbezirk. Nach dem großen Erfolg des vergangenen Jahres darf man gespannt darauf sein, wie Marco Santi Raum, Komposition und Tanz zu einem Erlebnis verbinden wird, das die unterschiedlichsten Sinne anspricht.
24. Juni bis 8. Juli 2011
Informationen
Konzert und Theater St. Gallen
Museumsstraße 2/24/25, CH-9004 Sankt Gallen
Tel. (+41-71) 242 05 05
info@stgaller-festspiele.ch
www.stgaller-festspiele.ch
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