Hermann Nitsch, einer der führenden Protagonisten des Wiener Aktionismus sowie international einer der renommiertesten und meistdiskutierten Künstler der Gegenwart, ist heute mit seinen Werken in den bedeutendsten Sammlungen und Museen der Welt vertreten. Mit der Entwicklung seines Orgien Mysterien Theaters provozierte er nicht nur weltweit handfeste Skandale, vielmehr gelang es ihm mit seiner sich auf archaische Strukturen rückbesinnenden Kunst, ein tiefes Interesse an religiösen, rituellen und mythologischen Fragen neu zu entfachen.
Dass der international umworbene Aktionskünstler Nitsch sich nicht nur als ein Meister der Farben, sondern in gleicher Weise auch als Meister der Klänge virtuos zu artikulieren weiß, dafür legt auch sein neuestes musikalisches Opus ein beredtes Zeugnis ab.
Hermann Nitsch: „Musik ist bekanntlich ein wesentlicher Bestandteil meines Orgien Mysterien Theaters. Aber als ich damit begonnen habe, gab es dafür keine adäquate Musik. Also musste ich sie selbst schaffen. Ich begann zunächst einmal, für die orgiastischen Szenen mit Lärm und Geschrei als einer Art archaischer ‚Urmusik‘ zu experimentieren. Später habe ich dann die tibetischen und asiatischen Klangtraditionen schätzen gelernt. Den Weg zu meiner ureigenen Musik habe ich dann über die Begegnung mit John Cage gefunden. Seither weiß ich, worauf es ankommt: dass man nämlich davon ausgeht, einen Klang entstehen, leben und atmen zu lassen. Wenn man die Musik so anlegt, passieren bei den Zuhörern wahre Wunder. Selbstverständlich ist meine intensive Beschäftigung mit dem Giganten Anton Bruckner nicht ohne Folgen geblieben. So war es dann eigentlich nur noch eine Frage der Zeit, bis ich über meine Orgien Mysterien Theater-Musik zur Symphonie kam.“
Anton Bruckner war es auch, der Hermann Nitsch mit dem exzentrischen Bruckner-Dirigenten und Celibidache-Schüler Peter Jan Marthé zusammenführte. Peter Jan Marthé, der mit seiner Vollendung von Bruckners unvollendeter IX. Symphonie die Musikwelt gespalten hat („Sakrileg oder Geniestreich?“, fragte Die Welt), wird für die Uraufführung der Ägyptischen das 1996 von Yehudi Menuhin gegründete European Philharmonic Orchestra dirigieren.
Es ist vor allem auch ein gemeinsames Element, das Nitsch und Marthé, die zwei radikalen Neudenker der Kunst, verbindet: die Neufindung der Bedingungen, „wann Klänge zu atmen beginnen“.
Während Hermann Nitsch sich sein gigantisches Klanguniversum durch unentwegtes Experimentieren erschloss, erhielt Peter Jan Marthé seine Initiation in die Geheimnisse der Musik in Indien, zu Füßen eines großen Meisters, Ustad Ameer Mohamad Khan. „Sich in Indien der Musik zu verschreiben heißt, täglich um vier Uhr früh damit zu beginnen, einen einzigen Ton eine Dreiviertelstunde zu singen. Monatelang. Entweder du wirst dabei verrückt, oder du machst einen gewaltigen inneren Quantensprung. Seitdem kann ich nicht mehr das Geringste mit dem westlichen Musikbetrieb anfangen, der großteils nur noch ‚Salonkunst‘ hervorzubringen vermag. In der Musik von Hermann Nitsch sehe ich einen Horizont für die zeitgenössische Musik aufleuchten. Begonnen hatte unsere aufregende Zusammenarbeit ja schon 2007 im Bruckner-Stift Sankt Florian, die zu einem wahrhaft außerordentlichen musikalischen Resultat geführt hat (CD Preiserrecords: PR 90746). Es sollte nicht lange dauern, bis mich Hermann Nitsch mit der Ankündigung überraschte, bereits an einer neuen, ‚gewaltigen‘ Symphonie zu arbeiten. Von Anfang an hat mich an Nitsch etwas fasziniert, das er mit Bruckner gemein hat: dass nämlich Musik nicht für ein unverbindliches L’art-pour-l’art-Geplänkel herzuhalten, sondern uns mit unseren ureigensten spirituellen Wurzeln in Verbindung zu bringen hat. Und so freue ich mich ungemein über unsere Zusammenarbeit, da Nitsch für mich zu jenen heute eher raren Kunstschaffenden zählt, die wieder zu den ursprünglichen Wurzeln der Kunst zurückgekehrt sind. So versteht Hermann Nitsch die Kunst als orgiastischen Akt, um über alle Sinne Seinsfindung zu betreiben. Ich bin mir sicher, dass gerade in dieser seiner neuen Symphonie das ganze Weltall in seiner kosmischen Weite, seiner erdigen Tiefe und seiner serafischen Höhe zu tönen anhebt“, meint Peter Jan Marthé. In seinen Gedanken ist er schon längst wieder bei der Erkundung der Klangwelten der Ägyptischen, die alle Zuhörer in außerordentliche Zustände der Seinsfindung versetzen wird.
Nicht zufällig trägt Hermann Nitschs Monumentalkomposition den Titel Die Ägyptische. Inhaltlich wird sie von „dionysischer“ Ekstase ebenso geprägt wie von ruhigeren Passagen als „apollinische“ Resonanz. Sich wellenförmig steigernde Klangfarben und die Ruhe unendlicher Weiten des Klangraums lassen im Zuhörer den tiefen Eindruck der Fülle eines imaginären, ägyptisch-mythologischen Abenteuers expressiv entstehen.
4. und 5. Juli 2009
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