Von „Nabucco” bis „Falstaff”, vom Belcanto-Melodrama Rossinis und Bellinis zur Charakterkomödie, die auf Puccini und Strauss vorausweist: In seinem fast ein Jahrhundert übergreifenden Komponistenleben schuf Verdi ein außerordentlich vielfältiges Œuvre: „Eine ungeheure Entwicklung liegt in seinen Opern beschlossen“, schrieb Oskar Bie 1913. „Alles Abenteuernde, was der alte italienische Komponist in der Zufälligkeit seiner Arbeiten, in ihrem Leichtsinn, ihrer Laune geliebt hat, überwindet er durch eine außerordentliche Pflege seiner Begabung und durch einsichtige Wandlung innerhalb der Zeitströmungen. Niemand hat sonst so viele Stufen erklettert, so viele Übergangsstufen …“ Auch Nabucco kann als Übergangsstufe gelten, nach dem Achtungserfolg des Erstlings Oberto, in dem Verdi noch ganz den Spuren Bellinis und Donizettis folgt, und der Opera buffa Un giorno di regno. Nach deren Fiasko glaubt sich Verdi am Ende. Seine Frau, seine beiden Kinder sind tot, seine zweite Oper durchgefallen, nie mehr will er komponieren. Und tatsächlich wird er über 40 Jahre keinen weiteren Versuch mit einer Opera buffa wagen.
Der Durchbruch: „Nabucco”
Der Druck des fortbestehenden Vertrags und wohl auch das Geschick des Scala-Impresarios Merelli sorgen dafür, dass Verdi wieder an den Schreibtisch zurückkehrt: Er drängt ihm das Libretto zu Nabucodonosor auf, das der deutsche Komponist Otto Nicolai zurückgewiesen hat …
Zufällig öffnet sich das Textbuch, der widerstrebende Komponist erblickt die Verse des berühmt gewordenen Gefangenenchors „Va, pensiero, sull’ali dorate …“ und wird eigener Darstellung zufolge „mächtig von ihnen ergriffen“. Verdis Erinnerung mag poetisch verklärt sein (einem Tagebucheintrag zufolge wollte auch er Nabucco ablehnen), doch die Tatsache bleibt: „Nabucco” war die eigentliche Geburt des Opernkomponisten Verdi.
Und war der Gefangenenchor zu dieser Zeit auch noch nicht als Hymne der italienischen Einigungsbewegung gedacht, als die sie später wahrgenommen wurde, so verleiht Verdi mit diesem Chor doch dem Volk erstmals eine bedeutende Rolle. Damit verwirklicht er eine der Neuerungen, die Giuseppe Mazzini, einer der führenden Köpfe des Risorgimento, für die Oper forderte – neben der Aufwertung des Orchesters und dem Verzicht auf nicht dramatisch motivierte Koloraturen. So beschritt Verdi hier den Weg, der (nur) aus der Rückschau so folgerichtig erscheint: Mit Mosè in Egitto hatte Rossini den ersten Schritt getan, Meyerbeers Grands Opéras stifteten Vorbilder, an denen sich Verdi orientierte und dabei doch stets seine jeweils eigene Dramaturgie, Formgestalt, Klangfarbe fand.
Grundthema: das Politische und das Private
Das Thema „Befreiung von Fremdherrschaft“ stieß im aufgeteilten Italien auf große Resonanz und fand in vielen Opernstoffen von Norma bis zu Don Carlo Niederschlag. Immer wieder aufs Neue erforscht Verdi in seinen Werken, wie politische Machtverhältnisse die persönlichen Beziehungen der Menschen durchdringen und überschatten, und zeichnet die Konflikte und das Leiden des Einzelnen im Zwiespalt zwischen individueller Erfüllung und den Verpflichtungen gegenüber Familie und Gesellschaft. Vorlagen dafür findet er bei Friedrich Schiller, dem neben Shakespeare und Victor Hugo bevorzugten Dramatiker – vier der schillerschen Dramen lieferten Vorlagen für seine Opern: „Die Jungfrau von Orleans”, „Die Räuber” (I masnadieri), „Kabale und Liebe” (Luisa Miller) und „Don Carlo”; (aus Wallensteins Lager die Kapuzinerpredigt für La forza del destino). Mit Ausnahme des „Don Carlo” haben sie sich auf deutschen Bühnen, wo Schillers Dramen den Maßstab abgaben, nicht recht durchgesetzt; doch die Oper gehorcht anderen Gesetzen, die Verdichtung der Handlung führt zu anderen Schwerpunkten – kurzum: Es gilt, sie als Werke sui generis wahrzunehmen.
Freiheitskampf gegen Loyalität: „Giovanna d’Arco”
So betrachtete der durchaus selbstkritische Verdi selbst die 1845 uraufgeführte „Giovanna d’Arco” damals als „ohne Ausnahme und Zweifel die beste meiner Opern“. Neben dem patriotischen Motiv der Befreiung Frankreichs gilt sein Augenmerk dem Konflikt Johannas mit ihrem Vater: Nicht auf ihrer Liebe zum Feind (dem englischen Soldaten Lionel in Schillers Vorlage) beruht ihre Schuld, sondern auf dem Verrat am Vater, denn sie liebt und unterstützt den französischen König … Da singen Chöre von Engeln beziehungsweise bösen Geistern von Loyalität, Gehorsam und Verzicht oder von ihrer Sehnsucht und Liebe (oder mit den Worten des Kritikers Eduard Hanslick: „Die Jungfrau lässt abwechselnd die gute und die böse Dusche auf sich einwirken“): Wie Verdi diesen inneren Konflikt gestaltet, weist schon voraus auf die Hexen in Macbeth. Schiller folgend und entgegen den historischen Tatsachen findet auch Verdis Jungfrau heroisch den Tod auf dem Schlachtfeld.
Verstrickung in allen Facetten: „Don Carlo”
Freiheitskampf und politische Unterdrückung kehren wie ein Echo wieder in „Don Carlo”, den Verdi 1867 für Paris schreibt. Facettenreicher als in anderen Werken handelt diese Oper von der fatalen Verstrickung in Beziehungen und widersprüchliche Gefühle: Begehren und entsagende Liebe, Freundschaft und Verkennung, Einsamkeit, Machtkalkül und Staatsräson. Das gewaltige fünfaktige Werk brachte die ganze Komplexität der menschlichen Existenz zwischen „öffentlich“ und „privat“ auf die Bühne der Opernhauptstadt Paris. „Es war ein vollständiger und ausgesprochener Flop“, urteilte Georges Bizet, erklärter Verehrer von Rigoletto und Traviata. „Verdi … möchte schreiben wie Wagner. Das hat weder Hand noch Fuß.“ Die Auflösung der strengen Trennung von Rezitativ und Arie, die Aufwertung des Orchesterparts, der als Ausdrucksmittel für die Seelenverfassung der Figuren zunehmend an Eigenständigkeit gewinnt, die düstere „tinta“ – die dunkle Grundstimmung dieser letzten Grand Opéra – gefielen nicht. Verdi notierte hellsichtig: „Es war kein Erfolg. Ich weiß nicht, was daraus wird, und würde mich nicht wundern, wenn sich die Sachlage ändern würde.“ Er behielt recht. Schon bald nach der Uraufführung gab es Strichfassungen, eine italienische Adaption für London, und 15 Jahre später unterzog er selbst das Werk einer Überarbeitung („das ist eine nicht sehr angenehme, eher langwierige Arbeit …“), das manchen als Essenz von Verdis Schaffen gilt.
Alles ist Narrheit, Gefoppte sind alle
„Verdi ist zu melancholisch, um eine Opera buffa schreiben zu können“, hatte Rossini nach dem Misserfolg von „Un giorno di regno” gemutmaßt (zu Verdis nachtragendem Ärger in der Gazzetta musicale seines eigenen Verlegers, Giulio Ricordi). Mit knapp 80 Jahren setzte der Maestro alle Skeptiker ins Unrecht. „Welch eine Freude, zum Publikum sagen zu können: Wir sind noch da!! Bahn frei für uns!!“, schrieb er an seinen Komponistenkollegen und kongenialen Librettisten Arrigo Boito. Die beiden schufen mit Falstaff – nein, keine Buffa, doch eine musikalische Komödie, die für Strauss-Hofmannsthals Rosenkavalier und viele andere Vorbild und Bezugspunkt wurde. Die vollkommene Durchdringung von Sprache und Musik, die zärtlich-ironische Würdigung des anachronistischen dicken Ritters in historischen Formen, die Selbstzitate Verdis (zum Beispiel das „ai! ai! ai!“ des gepiesackten Sir John im letzten Akt spielt auf das „guai“ an, mit dem die Dorfbewohner Johanna vor den bösen Geistern warnen), nicht zuletzt die Schlussfuge, welche die Scena ultima von Mozarts Don Giovanni vergegenwärtigt: „Alles auf der Welt ist Narrheit, und alle sind Gefoppte“, lautet das weltweise Resümee. Und auch wenn er Menuett und Fuge einsetzt, blickt Verdis melancholischer Abgesang auf den großartigen, großmäuligen Ritter mit dem gewaltigen Bauch auf Genussfreude und Herzenslust mit kompositorischer Virtuosität und Zukunftsfreude ins 20. Jahrhundert. „Geh, geh, alter John …“, überliefert Toscanini Verdis handschriftliches Notat in der Partitur. „Geh deinen Weg, solange du kannst … Lustiger Typ des Schelms, ewig wahr, in verschiedenen Masken, zu jeder Zeit, an jedem Ort! Geh … geh …“
Text: Barbara Maria Zollner
Informationen
http://www.salzburgerfestspiele.at
Leserkommentare
Zum Kommentieren kostenfrei registrieren oder anmelden.