Wiener Symphoniker © Andreas BalonAdrian Eröd © GramolaOlga NeuwirthAngel Blue (Lulu)

Düster, grausam, exquisit

Die komplexe Persönlichkeit des Komponisten André Tchaikowsky steht im Zentrum der diesjährigen Bregenzer Festspiele: Vorhang auf für die Uraufführung von „Der Kaufmann von Venedig” und zeitgenössisches Musiktheater, das sich sowohl schaurig als auch jazzig präsentiert.
Platz der Wiener Symphoniker 1, A-6900 Bregenz

Shakespeare und das Musiktheater – es ist ein von Ambivalenz geprägter Topos. Neben einigen bekannten Opern – Verdis „Otello” und „Falstaff” etwa, Brittens „A Midsummer Night’s Dream”, Berios „Un re in ascolto” oder, 2004, Thomas Adès’ „The Tempest” – stehen unzählige Werke, die rasch wieder in der Versenkung verschwanden. Von umso größerer Bedeutung ist daher eine Uraufführung, die, neben der „Zauberflöte” auf der Seebühne, im Rahmen der Bregenzer Festspiele 2013 auf dem Programm steht. Mit André Tchaikowskys „Der Kaufmann von Venedig” präsentiert
das renommierte Festival eine Produktion, die schon im Vorfeld internationale Beachtung findet.
Das um 1596/97 entstandene Stück rund um den jüdischen Geldverleiher Shylock folgt in seiner Verknüpfung der Ereignisse in der Tat nicht logischen, sondern vielmehr musikalischen Gesetzen. Dennoch mag es erstaunlich erscheinen, dass sich mit Tchaikowsky ausgerechnet ein Überlebender des Holocaust so intensiv mit diesem viel diskutierten Werk beschäftigte. Der Komponist nämlich wurde als Robert Andrzej Krauthammer 1935 in Warschau geboren, in der polnischen Hauptstadt, die damals zu den schönsten und ­lebendigsten Metropolen Europas zählte. 1939 brachten ihn die Nationalsozialisten gemeinsam mit seiner Familie ins Warschauer Getto. Dass der spätere Komponist überlebte, ist seiner Großmutter zu verdanken: Sie erwirbt für ihn falsche Papiere, die auf den Namen ihres Lieblingskomponisten, Peter I. Tschaikowsky, eingetragen sind, und schmuggelt das Kind aus dem Getto. Die weiteren Kriegsjahre verbringt der Bub versteckt in der Schlafzimmerkommode eines schwangeren Mädchens. Später macht er sich einen Namen als exzellenter Konzertpianist (Arthur Rubinstein: „einer der bedeutendsten Pianisten seiner Generation“) und emigriert nach Großbritannien. Ab nun wird sich Krauthammer/Tchaikowsky, eine höchst komplexe und von Depressionen gepeinigte Persönlichkeit, vorwiegend der Komposition widmen. Dazu zählt ab den 1970er-Jahren auch seine Arbeit am „Kaufmann von Venedig”.
Dass sich der Shakespeare-Fan aus Warschau mit dem Werkekanon des Dramatikers aus Stratford-upon-Avon beschäftigte, verwundert zwar nicht – schließlich vermachte er seinen Totenschädel sogar der Royal Shakespeare Company mit der Auflage, ihn als Bühnenutensil zu nutzen. Aber warum ausgerechnet The Merchant of Venice? „Abgesehen davon, dass Tchaikowsky Antisemitismus am eigenen Leib erfahren hat“, erklärt Bregenz-Intendant David Pountney, „eignet sich „Der Kaufmann von Venedig” hervorragend für eine Oper: Die Handlung umfasst zwei einander entgegengesetzte Welten, von denen jede eine andere Art des musikalischen Ausdrucks nahelegt. Venedig ist der Ort der männlichen Geschäftswelt, eine Stadt dominiert von Macht, Geld und Intoleranz. Belmont hingegen ist ein Ort der Frauen, der Liebe und der Musik.“ Tchaikowsky, so Pountney weiter, „meistert die musikalischen Möglichkeiten dieser beiden kontrastierenden Milieus mit erstaunlichem Geschick, als handelte es sich hier bereits um seine fünfte Oper. Venedig ist düster und grausam, Belmont hingegen zeichnet Tchaikowsky in exquisiten Farben, die an die Musik der Renaissance ­erinnern, und auch an Humor fehlt es nicht.“
Die Uraufführung dieser Oper wird als Koproduktion mit dem Warschauer Teatr Wielki im Festspielhaus auf die Bühne gebracht. Eingebettet in ein exquisites Ensemble, sind unter anderem der Wiener Bariton Adrian Eröd (Shylock), die wunderbare Magdalena Anna Hofmann (Portia) sowie der junge, mehrfach preis­gekrönte südafrikanische Countertenor Christopher Ainslie (Antonio) zu erleben. Die Inszenierung übernimmt der britische Regisseur Keith Warner – er war bei den Bregenzer Festspielen schon mit André Chenier erfolgreich –, am Pult der Wiener Symphoniker steht Dirigent Erik Nielsen.

Tchaikowsky intensiv
Keith Warner wird sich überdies auch an einem hochkarätig besetzten Symposium über André Tchaikowsky beteiligen. Neben renommierten Künstlern sowie Weggefährten des Komponisten wie András Schiff, Christopher Seaman und seinem Librettisten John O’Brien analysieren anerkannte Wissenschaftler die Schaffenssituation für Komponisten zu Tchaikowskys Lebzeiten und setzen so seine Biografie und sein Werk in einen größeren Kontext. Ebenfalls auf dem Programm: der Besuch einer Probe, eine Ausstellung sowie ein Film zu Tchaikowsky und zur Realisierung seiner Oper.
Erfreulicherweise ist das erste Konzert der Wiener Symphoniker am 22. Juli 2013 ebenfalls Teil dieses umfangreichen Tchaikowsky-Wochenendes, in dessen Rahmen zudem seine wichtigsten Kompositionen aufgeführt werden. Und so steht, neben Rachmaninoffs „2. Symphonie”, das Konzert für Klavier und Orchester op. 4 auf dem Programm (Dirigent: Paul Daniel); zu erleben ist hier der großartige Pianist Maciej Grzybowski, ein ausgewiesener Tchaikowsky-Spezialist. Auch die Reihe „Musik & Poesie“ widmet sich André Tchaikowsky auf intensive Weise und verbindet seine Kompositionen mit Werken weiterer polnischer Tondichter. Sie sind im intimen Rahmen des Seestudios gemeinsam mit Musik von Lutosławski, Chopin und Szymanowski zu hören.

Vertonter Schauerroman und eine ­amerikanische Lulu
Der musikalische Regent des Festivals ist auch Teil der spannenden Reihe „Kunst aus der Zeit“. Unter dem Motto „Ich habe meine Stimme für dich vervielfacht“ präsentiert das famose Altenberg-Trio Wien einen Abend, der mit Tchaikowskys Trio Notturno, entstanden 1982 und somit
im Sterbejahr des Komponisten, beendet wird. Davor intoniert das Trio Werke von Luciano Berio und Beat Furrer sowie Dimitri Schostakowitschs Trio op. 8 (1923). Letzteres widmete der damals 15-jährige und sehr schüchterne Schostakowitsch der gleichaltrigen Tatjana, einem Mädchen, das er, tuberkulosekrank, während eines Kuraufenthalts am Schwarzen Meer kennengelernt hatte.
Überdies steht ein Musiktheaterabend auf dem Programm, den viele auch als postume Hommage an den großartigen und kürzlich viel zu früh verstorbenen Iain Banks verstehen werden. Mit seinem Debütroman „The Wasp Factory” (1984) war dem schottischen Schriftsteller sofort der Durchbruch gelungen. Im Zentrum dieses Schauerromans – man kann ihn auch als, nun ja, eher ungewöhnlichen Coming-of-Age-Text interpretieren – steht Frank, dessen Mutter verschwunden ist und dessen Vater den Jungen sich selbst überlässt. Frank, der auf einer einsamen Insel aufwächst, stilisiert sich selbst zum Herrscher derselben und hängt einem von ihm entwickelten Kriegerkult an. Noch bevor er 14 ist, hat er drei Menschen ermordet.
Basierend auf dieser zornigen Mischung aus Blechtrommel und American Psycho, schufen Komponist Ben Frost – der in Bregenz auch Regie führt – und Librettist David Pountney ein neues Musiktheaterwerk, dem man mit Spannung entgegen­sehen darf: Der in Island lebende Austra­lier Frost, international renommiert und bekannt für Musik, die für Kontraste steht, zeigt sich beeinflusst vom klassischen Minimalismus wie auch von Genres wie Punk, Rock und Metal. Die drei Rollen des Werks werden ausschließlich von Sängerinnen interpretiert (Jördis Richter, Mariam Wallentin und Lieselot de Wilde), zudem wird ein Streichquintett, die Reykjavík Sinfonia, nicht nur spielen, sondern auch singen und sprechen und somit mehrere Rollen des verstörenden Erzählstrangs übernehmen.
Als österreichische Erstaufführung annonciert wird überdies Olga Neuwirths „American Lulu”, ein Werk, das im September 2012 an der Komischen Oper Berlin erfolgreich uraufgeführt wurde. Die österreichische Komponistin entwickelt in ihrer Auseinandersetzung mit Alban Bergs unvollendeter Oper „Lulu” eine neue, für viele zeitgemäße Sichtweise auf diese klassische Femme fatale des frühen 20. Jahrhunderts. „Es ging mir nicht darum, einen authentischen Alban Berg wiederzuerschaffen“, erzählt Neuwirth. Sie beschäftigte etwas anderes: „Es waren alles immer Blicke von Männern auf diese Frauengestalt Lulu. Dieser männliche Blick auf weibliche Hauptfiguren in Opern hat mich immer schon irritiert.“
Hatte Alban Berg die wedekindsche Lulu – eine umschwärmte Frau, die Männer reihenweise in den Selbstmord treibt und schließlich, nach ihrem Abstieg in die Pros­titution, von Jack the Ripper ermordet wird –, hatte also Berg diese Figur vom Fin de Siècle in die 1930er-Jahre transferiert, so siedelt Neuwirth ihre Oper in den USA der Bürgerrechtsbewegungen an, in der politisch so bedeutsamen, von Gegenkultur geprägten Epoche der Sixties und Seventies – Lulu, die Gräfin Geschwitz und Schigolch werden daher zu den Afroamerikanern Lulu, Eleanor (Billie Holidays tatsächlicher Vorname, im Übrigen) und Clarence. Die (gekürzten) ersten beiden Akte wurden zudem für eine Art Jazzensemble orchestriert, während der dritte Akt, basierend auf Friedrich Cerhas Rekonstruktion, von Neuwirth sowohl textlich als auch musikalisch völlig neu gefasst wurde. Die Bregenzer Aufführung entsteht in Koproduktion mit The Opera Group, der Scottish Opera sowie dem Londoner Young Vic, in der Titelrolle ist die wunderbare Angel Blue zu erleben, Regie führt John Fulljames, die musikalische Leitung übernimmt Gerry Cornelius.
Text: Eva Maria Mandl
17. Juli bis 18. August 2013

Informationen & Tickets
Tel. +43 (0) 55 74/407-6
http://www.bregenzerfestspiele.com

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