Warum so viel Aufregung?
Aufregung, Not und Einsamkeit sind die Kameraden der Lebensfreude. Denn wenn das Glück zum Dauerzustand geworden ist, wird’s fad. Wenn der Reichtum ohne Wünsche ist, wird er langweilig. Und wenn ein Mensch vor lauter Zufriedenheit zu faul geworden ist, um zu denken und zu danken, wird er trübsinnig.
„Das ist Aufregung! So ein Moment reißt ei’m die Schlafhauben vom Kopf, das ist Senf für das alltägliche Rindfleisch des Lebens!“ Das ruft der fadeste und reichste Mensch, den Johann Nestroy geschaffen hat: Herr von Lips, der Zerrissene. Diesen lebensuntüchtigen Kapitalisten bringt das Salzburger Straßentheater heuer auf die Bühne und mit ihm die geldgierige Witwe Schleyer, die Lips zum Senf seines Lebens auserkoren hat, den witwengierigen Schlosser Gluthammer, den zwideren Pächter Krautkopf sowie dessen brave Nichte Kathi, deren Gemüt das Liebsein und die Einfalt vereint.
Eine Aufregung muss diese Aufführung allein deshalb werden, weil der fahrbare Bühnenwagen heuer mehr Stückeln spielen wird denn je und trotzdem so auf- und zuklappbar sein muss, dass ihn zwei Pferde der Stieglbrauerei ziehen können. Da stürzen zwei liebestoll raufende Männer, von denen jeder vor Eifersucht um die Witwe Schleyer den anderen umbringen will, vom Balkon in einen Gebirgsbach, da flieht ein waschelnasser Herr von Lips über die Bühne, da knallen im Krautkopf’schen Wirtschaftsgebäude die Falltüren zu Kraut- und Rübenkeller auf und zu, und schließlich müssen Lips und Gluthammer, der eine zu ebener Erd’, der andere im finstern Keller, durch so eine Falltür einander zu Tode erschrecken.
Warum so viel Aufregung? „Zum 40-Jahre-Jubiläum wollen wir etwas Großes spielen“, sagt Klaus Gmeiner. Er führt – als Nachfolger Oscar Fritz Schuhs, des Gründers des Salzburger Straßentheaters – seit 1984 Regie und ist für den Spielplan verantwortlich. Der Zerrissene ist ein dreifach großes Stück: Es hat mit acht Schauspielern und drei Musikern eine für das Salzburger Straßentheater ungewöhnlich große Besetzung; die Bühnentechnik ist aufwendiger denn je; der langjährige Ausstatter Bernd Dieter Müller entwirft sein „Meisterwerk“ für Nestroys Meisterposse.
Dieses senfscharfe Wechselspiel zwischen Lebensmüdigkeit und Gier ist psychologisch präzise durchdacht, in seinen Couplets und in Dialogen blitzt die Philosophie hervor, und trotzdem birst es vor Ironie, Spott, Sprachwitz und Wortspiel. „Jeder zweite Satz ist ein Bonmot“, sagt Gmeiner, „und kein Witz ist billig.“ Es ist ein herausragendes Beispiel dafür, dass zwischen klug und lustig, geistreich und volkstümlich kein Widerspruch sitzt.
Johann Nestroys Posse ist noch aus einem weiteren Grund etwas Besonderes für das Salzburger Straßentheater: Mit Johann Nestroy (Frühere Verhältnisse) hat es am 25. Juli 1970 begonnen, und keines anderen Autors Stücke sind seither so oft gespielt worden (12 Titel in 40 Jahren).
Ganz Nestroy, ganz geistreich-lustiges Volkstheater soll es werden, und musiziert wird nach der Originalmusik Adolf Müllers. Nur in einem folgt das Salzburger Straßentheater heuer wieder nicht dem, was Johann Nestroy angestrebt hat, wenn er sagte: „Bis zum Lorbeer versteig ich mich nicht, g’fallen sollen meine Sachen, unterhalten, lachen sollen d’ Leut, und mir soll die G’schicht a Geld tragen, dass ich auch lach, das ist der ganze Zweck.“ Gelacht soll werden im Publikum, gefallen soll’s, doch Geld muss diese Aufführungsserie nicht tragen. Denn die Veranstalterin, die Salzburger Kulturvereinigung, folgt dem Wunsch Oscar Fritz Schuhs, die Schauspielkunst unters Volk zu bringen und daher das Salzburger Straßentheater für alle, nur nicht für sich selbst billig zu machen: Der Eintritt ist frei. Wenn’s allerdings Spenden gibt, lacht die Kulturvereinigung auch.
40 Jahre „Festspiele für den kleinen Mann“
Das Jubiläumsjahr ist willkommener Anlass, auf die in Österreich einzigartige Erfolgsgeschichte zurückzuschauen. Es war der renommierte Regisseur Oscar Fritz Schuh, der die Idee zu diesem Projekt hatte. „Ich besann mich auf Eindrücke und Vorstellungen aus der Jugendzeit. Der Thespiskarren als die einfachste Form des Theaters ergriff wieder von mir Besitz. Mir kam ein Vorschlag in den Sinn, den ich der Salzburger Festspielleitung schon 1957 unterbreitet hatte, damals ohne Erfolg. 1970 zeigte sich die Salzburger Kulturvereinigung … interessiert, das von mir konzipierte Straßentheater in ihre Obhut zu nehmen. Auf einem Wagen ist eine kleine Bühne montiert. Eine Seitenwand kann heruntergeklappt werden, sodass eine größere Spielfläche gewonnen wird, die das komödiantische Theater braucht, um sich entfalten zu können. Den Wagen hat meine Frau, die Bühnenbildnerin Ursula Schuh, gestaltet. Bewusst wird eine gewisse Assoziation zum Puppentheater geweckt, weil die vielen Akzente des Schauspiels aus dieser Ecke herrühren. Das Publikum steht vor diesem kleinen Theater, die sozialen Unterschiede sind für die Dauer der Darbietung aufgehoben … Und wenn die Vorstellung beendet ist, zieht der Karren weiter … Nicht der Zuschauer kommt zum Theater, sondern das Theater zu den Zuschauern“ (Oscar Fritz Schuh in seinem Erinnerungsbuch).
1985 hat Klaus Gmeiner die künstlerische Leitung dieser „Festspiele für den kleinen Mann“, wie Karl Böhm, der ein begeisterter Zuschauer war, einmal bemerkte, übernommen und beweist mit renommierten und vor allem spielfreudigen Schauspielern seit 26 Jahren, dass das klassische Repertoire der großen Theater auch und vielleicht besonders gut auf einer kleinen Bühne unter freiem Himmel funktioniert. Für Überraschungen sorgt seit 1988 die stets fantasievolle Ausstattung von Bernd Dieter Müller.
Da die Vorstellungen bei freiem Eintritt stattfinden, wird das Unternehmen unterstützt. Stadt, Land, Bund und die Gemeinden, in denen das Straßentheater gastiert, sowie die Salzburger Stieglbrauerei sind die Förderer. Die Kostüme und Requisiten sind Leihgaben der Festspiele und des Landestheaters. Und nicht zuletzt leisten die Zuschauer – Stammpublikum und Zufallsbesucher – mit ihrer Spendierfreudigkeit Jahr für Jahr einen großen Beitrag.
Im Jubiläumsjahr des Salzburger Straßentheaters erscheint im Anton-Pustet-Verlag ein reich bebildertes Buch, Das Straßentheater kommt!. Autorin Sandra Marchart bietet erstmals einen Einblick
in die Geschichte(n) dieses einzigartigen Kulturjuwels.
Informationen
Salzburger Straßentheater
40 Aufführungen ab 23. Juli 2010
Spielorte und Termine im Internet:
www.kulturvereinigung.com
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