Nirgendwo anders als in Mannheim erfuhr Mozart von den Bestrebungen Kaiser Josephs II., dem deutschsprachigen Singspiel in Wien zu größerer Geltung zu verhelfen. „Ich weiß ganz gewis“, schreibt Mozart 1778 aus Mannheim an seinen Vater, „das der Kaiser in sinn hat in Wien eine teutsche opera aufzurichten, und daß er einen jungen kapelnmeister, der die teutsche Sprache versteht, genie hat, und im stande ist etwas neues auf die welt zu bringen, mit allen ernste sucht; [...] ich glaube, das wäre so eine gute sache für mich; aber gut bezahlt, das versteht sich, wenn mir der kaiser Tausend gulden giebt, so schreibe ich ihm eine teutsche opera.“
Es sollten allerdings noch 3 Jahre vergehen, ehe ihm der Theaterdichter Gottlieb Stephanie der Jüngere in kaiserlichem Auftrag ein „Neues stück“ in Mozarts soeben erst bezogenes Zimmer in Wien, bei der „alten Mad:me Weber“ brachte: Bellmont und Constanze, oder: Die Entführung aus dem Serail. Die zehnmonatige Kompositionsarbeit an der Entführung scheint wie eingespannt zu sein zwischen zwei lebensentscheidenden Daten und Ereignissen: auf der einen Seite der Bruch mit seinem Salzburger Arbeitgeber, Erzbischof Coloredo, und der Umzug nach Wien, wo sich Mozart auf die Suche nach neuen Gönnern machen musste; auf der anderen Seite die Hochzeit mit Constanze Weber, die, wenn nicht einen Bruch, so doch ein Zerwürfnis mit seinem Vater und, nach monatelanger Auseinandersetzung, die Loslösung von ihm zur Folge hatte.
So spricht aus der Musik zur Entführung ein junger Mensch, der zum ersten Mal alleine durchs Leben geht, mit all seinen Ängsten, aber auch mit all seinem Mut; und in dem aufgrund neuartiger Lebensumstände auch neue Gedanken über Liebe und Beziehung heranreifen. Das zu Mozarts Zeit modische Türkensujet wird zum äußeren Zeichen für das Fremdsein in der Liebe. Fast scheinen die beiden Dreierkonstellationen Belmonte – Constanze – Bassa Selim und Pedrillo – Blonde – Osmin wie zwei Variationen ein und desselben Themas: der vertraute Partner wird zum Fremden, der Fremde wird (erschreckend) vertraut. Aus dieser Sicht kommt dem exotischen Serail, in dem die Europäer Konstanze, Blonde und Pedrillo von den Türken Bassa Selim und Osmin festgehalten werden, eine doppelte Bedeutung zu: Es ist nicht nur als orientalischer (und damit fremder) Schauplatz, sondern ebenso als Seelenraum zu verstehen, als Ort der Entscheidung, als Ort der inneren Befreiung – einer Befreiung, die vielleicht nur innerhalb der Serailmauern stattfinden kann. Da erscheint die eigenartigerweise als „Entführung“ bezeichnete Befreiungsaktion von Belmonte und Pedrillo der „inneren Befreiung“ der beiden Frauen fast hinderlich zu sein ...