„Ich glaube, dass Bellini der letzte Opernkomponist war, der sich wirklich dessen bewusst war, dass Singen nicht nur ein dramatisches Mittel ist, sondern eine magische Kraft.“ Dieser Satz des Musikwissenschaftlers David Kimbell beschreibt ein Spezifikum, das uns besonders an der Norma, dem unumstrittenen Meisterwerk Vincenzo Bellinis, immer wieder fasziniert. Wobei man nicht unterschlagen sollte, dass gerade diese Oper nicht nur berühmte „melodie lunghe lunghe lunghe“ (wie Verdi sie bewundernd nannte) enthält, sondern von ungeheurer dramatischer Wucht ist.
Arthur Schopenhauer hat die „echt tragische Wirkung der Katastrophe“ bewundert, die im Finale der Norma „so rein motiviert und deutlich ausgesprochen“ hervortritt. Und Alfred Einstein urteilte: „Jemand, der aus einer Aufführung von Norma kommt und nicht bis zum Überfließen gefüllt ist mit den letzten Seiten dieses Aktes, weiß nicht, was Musik ist.“
Die beiden Schöpfer der Norma verarbeiten verschiedene literarische Vorlagen. In entscheidenden Punkten weichen sie jedoch von den benutzten Quellen ab. Anders als in Alexandre Soumets Drama Norma ou L’Infanticide, das dem Libretto vor allem zugrunde liegt, wird die Titelheldin in der Oper nicht zu einer zweiten Medea: Sie nimmt sich zwar vor, ihre beiden Kinder, die sie mit Pollione hat, aus Rache zu töten, nachdem dieser sich von ihr abgewandt hat; doch sie bringt es dann doch nicht übers Herz. So entsteht das lebensnahe, berührende Porträt einer liebenden Frau und Mutter, die durch alle Höhen und Tiefen der Empfindung geht, bis sie am Ende den übermenschlichen Schritt zum Selbstopfer tut.
Zu den berühmtesten Arien der Operngeschichte gehört Normas Gebet an die Mondgöttin, „Casta Diva“. Wie viele andere Passagen der Partitur kann auch diese Szene ihren Zauber nur entfalten, wenn man sie nicht als bloßen Anlass für virtuose Koloraturen missversteht. So suggestiv die weit ausschwingende Gesangslinie, das atmosphärisch dichte Zusammenspiel von Protagonistin, Orchester und Chor und der stilsichere Einsatz des Ziergesangs sich zu einem perfekten Ganzen fügen: Bellinis Kunst will nicht nur „schön“ sein, sie steht immer im Dienst eines Ausdrucks, der uns eine Bühnenfigur in einem nachvollziehbaren, oft extremen emotionalen Zustand nahebringt.
Dem Regie-Duo Moshe Leiser und Patrice Caurier geht es nicht darum, das Konstrukt einer mythischen Kunstfigur zu bebildern. Norma ist die charismatische Anführerin einer Gruppe von Menschen, die sich im Widerstandskampf gegen eine übermächtige Besatzungsmacht befinden. Als sie sich einer Leidenschaft zu Pollione, der an der Spitze der Besatzer steht, hingab, ist sie zur Verräterin geworden. Indem sie sich am Ende zu ihrer Schuld bekennt und das eigene Leben opfert, bewahrt sie ihre Würde. Die Geschichte dieser außergewöhnlichen Frau wird jenseits eines fantastischen Galliens in eine konkrete Epoche versetzt, aus der heraus ihr tragischer Konflikt nachvollziehbar wird und unmittelbar unter die Haut geht.