Der in Straßburg und Wiener Neustadt tätige Niederländer Niclaus Gerhaert von Leyden ist zweifellos einer der wichtigsten und einflussreichsten Künstler der Spätgotik. Das Liebieghaus widmet dem heute fast vergessenen, von den Zeitgenossen aber hoch gerühmten und verehrten Bildhauer des ausgehenden 15. Jahrhunderts nun erstmals eine eigene Ausstellung.
Gerhaerts Werke überzeugen durch überraschende Modernität und große Lebensnähe der Figuren. Berühmte mittelalterliche Künstler wie Tilman Riemenschneider, Veit Stoß, Michel Erhart oder der Tiroler Michael Pacher sind ohne ihn nicht denkbar. Die geringe Anzahl der signierten Arbeiten und schriftlichen Quellen erschwert es der Forschung, Herkunft, Lebensweg und Werkkomplex Gerhaerts zu rekonstruieren, doch schon zu Lebzeiten muss er als Bildhauer berühmt gewesen sein – sogar Kaiser Friedrich III. bemühte sich um seine Dienste. Heute hingegen ist Gerhaert dem Publikum nicht zuletzt auch wegen der wenigen erhaltenen Zuschreibungen weitgehend unbekannt. Die Frankfurter Ausstellung rückt diesen herausragenden Künstler nun erstmals ins Zentrum einer großen Schau. Soweit konservatorisch vertretbar, werden das gesicherte Œuvre und ihm zugeschriebene beziehungsweise in seinem Zusammenhang diskutierte Objekte in bislang einzigartigem Umfang präsentiert, ergänzt um wenige Gipsabgüsse nicht transportabler Werke. Überdies belegen ausgewählte Beispiele erstklassiger Skulpturen aus dem Umkreis und der Nachfolge Gerhaerts seine nachhaltig prägende Wirkung auf spätere Generationen.
Der Ausstellung sind ausgedehnte Forschungsarbeiten zu Niclaus Gerhaert und seinen Zeitgenossen vorausgegangen. Mit Unterstützung eines international besetzten Expertenteams wurden alle für Gerhaert gesicherten und zahlreiche ihm zugeschriebene Werke in Stein und Holz mit modernsten Forschungsmethoden untersucht und ausführliche kunsttechnische Befunde erstellt. Der Schwerpunkt der Untersuchungen lag auf dem Entstehungsprozess der Skulpturen und der farbigen Oberflächengestaltung. Mithilfe der neuen kunsttechnologischen Erkenntnisse, welche die bisherigen kunsthistorischen Methoden produktiv ergänzen, konnte so beispielsweise die Herkunft einiger bis dato diskutierter Arbeiten für Gerhaert und seine Werkstatt gesichert werden, während andere Skulpturen aus dem Œuvre ausgeschieden werden mussten.
International renommierte Sammlungen und Museen wie das Metropolitan Museum of Art in New York, das Rijksmuseum in Amsterdam, das Musée du Louvre in Paris, das Kunsthistorische Museum in Wien, das Berliner Bode-Museum oder das Bayerische Nationalmuseum in München unterstützen die Ausstellung durch hochkarätige Leihgaben. Insgesamt werden rund 70 Werke gezeigt, 20 davon aus der Hand des Meisters und seiner Werkstatt. Als sensationell zu bewerten ist die Präsentation des heiligen Georg und der heiligen Maria Magdalena aus dem Nördlinger Hochaltar, zweier Gerhaert und seiner Werkstatt zugeschriebener original gefasster und nahezu lebensgroßer Holzskulpturen. So ergibt sich die einzigartige Gelegenheit, sie erstmals im Kontext beglaubigter Gerhaert-Werke und anderer Zuschreibungen vergleichend zu betrachten und zu diskutieren. Nicht weniger spektakulär ist die Wiedervereinigung zweier Büstenfragmente, den aus Sandstein gearbeiteten Köpfen eines Propheten in Straßburg und einer Sibylle, einer antiken Seherin, im Frankfurter Liebieghaus. Die im Volksmund als Jakob von Lichtenberg und seine Mätresse Bärbel von Ottenheim bezeichneten Fragmente von Halbfiguren stammen vom Portal der Alten Kanzlei in Straßburg, das Niclaus Gerhaert 1463 vollendete. Erstmals seit ihrer Trennung im 19. Jahrhundert werden diese beiden grandiosen Köpfe wieder zusammen zu sehen sein.
Eine Ausstellung der Liebieghaus Skulpturensammlung, Frankfurt am Main, und des Musée de l’Œuvre Notre-Dame, Straßburg. Das Forschungs- und Ausstellungsprojekt wird durch den Kulturfonds Frankfurt RheinMain und die Kulturstiftung der Länder ermöglicht. Mit zusätzlicher Unterstützung der Ernst von Siemens Kunststiftung.
bis 4. März 2012
Informationen
Liebieghaus Skulpturensammlung
Schaumainkai 71, D-60596 Frankfurt am Main
Di, Fr–So 10–18 Uhr, Mi und Do 10–21 Uhr
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