Das mittelalterliche jüdische Erbe – ein weltweit einmaliger Schatzfund, die Alte Synagoge und die jüngste Ausgrabung eines Ritualbads (Mikwe) beflügeln die UNESCO-Bewerbung der Stadt.
Sensationeller Schatz
In Erfurt hat sich 1998 eine Geschichte zugetragen, wie sie selbst die spannendste History-Doku auf einem der zahlreichen TV-Kanäle nicht packender erzählen könnte. Während Erdarbeiten in der historischen Altstadt innerhalb des ehemaligen jüdischen Viertels sieht ein Bauarbeiter aus dem staubigen Grund plötzlich etwas Metallisches hervorblitzen. Nach vorsichtigem Schaufeln befördert er einen offenbar silbernen Becher zutage. Vom Entdeckerfieber gepackt, gräbt der Mann weiter und stößt auf andere Fundstücke. Ein umgehend hinzugezogener Archäologe erkennt rasch, dass es sich hier um erste Exemplare eines achtteiligen Trinkbechersatzes handelt, wie sie im Mittelalter sehr häufig zum Hausrat betuchter Kaufmannsfamilien gehörten; erhalten haben sich davon nur wenige. Bei den professionellen Grabungen, die nun folgen, entdecken die Fachleute am Ende einen fast 30 Kilogramm schweren Schatz: 3142 französische Silbermünzen, 14 silberne Barren sowie mehr als 700 Goldschmiedearbeiten. Die Objekte sind äußerst selten und zum Teil tatsächlich einmalig. Das absolute Highlight ist ein jüdischer Hochzeitsring aus hochkarätigem Gold, ein faszinierendes Schmuckstück und Meisterwerk der Goldschmiedekunst des frühen 14. Jahrhunderts. Aus archäologischer Sicht sensationell, denn Funde von Hochzeitsringen aus dieser frühen Epoche sind nur zwei weitere bekannt. Der Schatz belegt den hohen wirtschaftlichen Stellenwert der jüdischen Gemeinde Erfurts und wurde vom Besitzer, dem reichen jüdischen Geldhändler Kalman von Wiehe, vor dem Hintergrund des Pogroms von 1349 zum Schutz vor Beschlagnahmung vergraben. Den Ring schenkte der jüdische Bräutigam der Braut nicht nur als Zeichen seiner Liebe und Treue, sondern vor allem als Beweis, seiner Auserwählten eine sichere, sorgenfreie Zukunft bieten
zu können. Das Schmuckstück, fast fünf Zentimeter hoch, ist in Form eines achteckigen Miniaturgebäudes gearbeitet; dies ist als Symbol für den antiken Tempel in Jerusalem zu deuten. Im Inneren des Häuschens erzeugt eine kleine goldene Kugel bei Bewegung einen zarten Klang. Der Ring musste vom Bräutigam ganz offiziell vor der Hochzeit erworben werden und obligatorisch aus Gold sein, nur in Absprache war Silber erlaubt. Die Braut trug das kostbare Stück nur während der Zeremonie am Zeigefinger, danach wurde der Ring im Haushalt der Eheleute, quasi als „Kapitalanlage“, verwahrt.
Der Bauarbeiter wurde übrigens als Finder fürstlich belohnt. Aus Zurückhaltung und wohl auch, um allzu viel Medienrummel zu vermeiden, hält sich der Mann bis heute bescheiden im Hintergrund.
Kultstätte, Lagerhaus, Wirtshaus, Museum
Der Erfurter Goldschatz dagegen glänzt im Lichte der Öffentlichkeit und hätte keine würdigere Präsentationsstätte finden können als die Alte Synagoge im Herzen von Erfurt. Nach Ausstellungen in Paris, New York und London dokumentiert heute eine Dauerausstellung im Kellergeschoss des mittelalterlichen Gebäudes die abenteuerliche Fundgeschichte und zeigt den kompletten Schatz – von Umfang und Zusammensetzung weltweit einmalig – in seiner ganzen Pracht.
Die Geschichte der Alten Synagoge ist mindestens so aufregend wie die des Schatzes selbst. Nur glücklichen Umständen ist es zu verdanken, dass der Bau – im Kern aus dem Jahr 1094 und damit die älteste bis zum Dach erhaltene Synagoge Mitteleuropas – der Zerstörung durch die Nazis entgangen ist. Gut versteckt, von allen Seiten eingemauert durch Wohn- und Wirtschaftgebäude im dicht besiedelten Kaufmannsviertel der Stadt, überdauerte der Bau die Jahrhunderte. Das historische jüdische Viertel lag an der Kreuzung zweier wichtiger Handelsrouten, der Via Regia und der Michaelisstraße, und gab unter den rund 15 000 Einwohnern etwa 1000 Juden Raum zum Leben und Arbeiten.
Die jüdische Gemeinde Erfurts war eine der wichtigsten ihrer Zeit, bedeutende Gelehrte wirkten hier. Es herrschte ein friedliches Nebeneinander von Christen und Juden, Tuchhändlern, Goldschmieden und Patriziern. Ein jähes Ende markiert der Pogrom von 1349. Die schwarze Pest wütet in Europa und bringt mit dem Vorwand, die Juden hätten die Brunnen vergiftet, überall Judenhass und Vertreibung – bis nach Erfurt. In dieser aufgeheizten Stimmung – die Pest ist 1350 in der Stadt – wird das Viertel um die Synagoge niedergebrannt, die ganze jüdische Gemeinde getötet. Schon kurz nach den Unruhen wurde das stattliche Gebäude zum Lagerhaus umfunktioniert, im 19. Jahrhundert schließlich zog ein Gastronomiebetrieb ein. Der Tanzsaal im Obergeschoss mit den bunten Dekorationsmalereien sowie die umlaufende Holzempore haben sich erhalten. Heute sind hier beeindruckende Thorarollen und Bibeln ausgestellt, aus konservatorischen Gründen als Faksimiles. Die Erfurter hebräischen Handschriften gehören zu den ältesten in Europa erhaltenen Exemplaren und zeugen vom hoch entwickelten Geistesleben der ersten jüdischen Gemeinde.
Erst 1988 entdeckten Mitarbeiter der städtischen Behörden im Zuge von Umbauarbeiten im Quartier zunächst den unscheinbaren Giebel und legten dann Stück für Stück die interessante Fassade mit der Fensterrose frei. Die Idee für ein Museum zur jüdischen Geschichte von Erfurt war geboren. Nach aufwendiger Sanierung sollte es fast 10 Jahre dauern, bis im Oktober 2009 das Museum Alte Synagoge seine Pforten öffnete. Mehr aus 110 000 Besucher interessierten sich seither für die bewegte und bewegende Geschichte der Erfurter Juden.
Netzwerk „Jüdisches Leben in Erfurt“
Das jüngste Puzzleteil stellt die mittelalterliche Mikwe dar. Das jüdische Tauchbad aus dem 13. Jahrhundert wurde 2007 von Archäologen entdeckt und nach umfassender Dokumentation am 4. September 2011 der Öffentlichkeit übergeben. Die Mikwe diente der rituellen Reinigung nach dem Kontakt mit Toten, etwa bei der Vorbereitung einer Bestattung oder wenn man mit Blut in Berührung kam. Wichtig war dabei das vollständige Untertauchen in „lebendigem Wasser“ (Grundwasser), wie es am Ufer der Gera zur Verfügung stand. Der rituelle Raum kann im Rahmen von Führungen separat oder in Verbindung mit dem Besuch der Alten Synagoge besichtigt werden.
Aktuelle Sonderausstellung in der Alten Synagoge: Ganz rein! Jüdische Ritualbäder – Fotografien von Peter Seidel (bis 8. Januar 2012, Di–So 10–18 Uhr).
Information: Tel. +49 (0) 361/655 16 08
Bewerbung zum UNESCO-Weltkulturerbe
Vor dem Hintergrund dieser bedeutenden und in ihrer Fülle weltweit einmaligen Zeugnisse jüdischer Kultur strebt die Landeshauptstadt Erfurt ihre Bewerbung zum UNESCO-Weltkulturerbe an. Die Chancen, den begehrten Titel zu erlangen, stehen gut. Auch wenn die Vergabepraxis meist einen langen Weg bedeutet, ist Erfurt schon heute und jederzeit eine Reise wert! Eine historische und zugleich sehr lebendige Altstadt, die nicht nur auf der berühmten Krämerbrücke den Bogen zwischen Geschichte und Gegenwart spannt, lädt ihre Besucher zu einem Kulturbummel der ganz besonderen Art ein.
Text: Claudia Schwerdtfeger
Informationen
Erfurt Tourist Information
Tel. +49 (0) 361/66 40-0
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