Was für eine Epochenwende: Erschüttert von den verheerenden Folgen des Dreißigjährigen Krieges, von machtpolitischen und dynastischen Rivalitäten, aber auch von zahlreichen Epidemien und Großbränden, wurde die Zeit um 1700 in Europa weithin als krisenhaft erlebt. Aus dieser Atmosphäre der Endzeit heraus entwickelte sich ein breiter gesellschaftlicher Prozess des Aufbruchs. Religiöse Bewegungen führten zu einer individualisierten wie auch strengen Frömmigkeit. Die Gründung von Akademien und Sozietäten förderte intensiv den Aufstieg der Wissenschaften. Aufklärerische Ideen trafen auf absolutistischen Herrschaftsanspruch und formten den frühmodernen Staat. Neue Medien und ein verbessertes Verkehrswesen lösten eine wahre Kommunikationsrevolution aus. Raum und Zeit wurden vermessen und neu erfahren. Und die europäischen Mächte rangen um die Welt außerhalb Europas. In diese spannungsreiche Zeit hinein plante August Hermann Francke (1663–1727) sein soziales und pädagogisches Reformwerk.
Alles begann mit vier Talern und 16 Groschen in der Spendenbüchse, die den Pfarrer und Universitätsprofessor bewogen, 1698 vor den Toren der Stadt Halle eine Schulstadt zu gründen. Erstmals sollte hier ein vielgliedriges Schulsystem Kinder unabhängig von ihrem sozialen Stand fördern und durch umfassende Bildung die Voraussetzung für ein selbstverantwortliches Leben im Dienst der Gesellschaft schaffen. Innerhalb weniger Jahrzehnte avancierten Franckes Schulen zur bedeutendsten protestantischen Bildungseinrichtung Europas, zu einem „Pflanzgarten des Glaubens“, dessen „Früchte“ zur realen Verbesserung in allen Ständen und allen Teilen der Welt beitragen sollten.
Die europäischen Größen gewann Francke für seine Reformen: Mit dem Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz stand er in regem Briefwechsel, die preußischen Könige unterstützten den Aufbau der Schulstadt mit einer Vielzahl von Privilegien, von London aus finanzierte Queen Anne einen Freitisch zur Förderung des Englischunterrichts, der dänische König Frederik IV. beauftragte Schüler Franckes mit der Gründung der weltweit ersten protestantischen Mission in Indien, und Zar Peter I. ließ sich von Franckes Bildungsprojekten zu eigenen Schulreformen inspirieren.
Zum 350. Geburtstag des prominentesten Sozialreformers seiner Zeit wendet sich eine hochkarätige Jubiläumsschau in den Franckeschen Stiftungen erstmals der Frage zu, woraus Francke die Tatkraft für sein beeindruckendes Lebenswerk schöpfte, das er abseits der europäischen Metropolen so erfolgreich umsetzte und schon damals visionär weltweit vernetzte. Über 300 fast ausschließlich originale zeitgenössische Exponate, zusammengetragen aus bedeutenden Museen, Sammlungen, Archiven und Bibliotheken, lassen zugleich ein Panorama der Epochenwende um 1700 entstehen. Vor allem aber begleiten die prächtigen Gemälde der Gönner und Gelehrten sowie der berühmten Schüler der Schulstadt den Ausstellungsrundgang. Sie stellen Francke, dessen zahlreiche zeitgenössische Porträts hier erstmals gemeinsam gezeigt werden, in den weltgeschichtlichen Kanon seiner Zeit.
Ausstellungen
Die Welt verändern. August Hermann Francke.
Ein Lebenswerk um 1700
Jubiläumsausstellung im Historischen Waisenhaus
24. März bis 21. Juli 2013
Gewissheit, Vision. Francke von heute aus gesehen
Internationale Kunstausstellung im Historischen Waisenhaus
22. September 2013 bis 14. Februar 2014
Informationen
Franckesche Stiftungen zu Halle
Historische Schulstadt mit Waisenhaus
Kunst- und Naturalienkammer
Sing- und Betsaal, Kulissenbibliothek
Francke-Wohnhaus
Sonderausstellungen
Di–So und Fei 10–17 Uhr
Franckeplatz 1, D-06110 Halle
Tel. +49 (0) 345/212 74 50
www.francke-halle.de
Leserkommentare
Zum Kommentieren kostenfrei registrieren oder anmelden.