Tradition ist nicht Anbetung der Asche, sondern Weitergabe des Feuers, lautet eine viel zitierte Äußerung von Gustav Mahler. Wenn in diesem Sommer das Simón Bolívar Symphony Orchestra unter Leitung von Gustavo Dudamel drei Symphonien Mahlers zur Aufführung bringt, ist das der schönste Beweis für Mahlers Weisheit: Die Klangkörper des venezolanischen Orchesterprojekts „el sistema“ – vom großen Symphonieorchester bis zum Streichquartett, vom Kinderorchester bis zum integrativen „Chor der weißen Hände“ – eint dieses Feuer. Es brennt und entzündet neue Musikinitiativen in Europa. Hier lesen Sie, wie es begann …
Die barríos, die Vorstadtsiedlungen von Caracas – oder von Guarenas oder Maracay –, sind keine idyllischen Orte. Es gibt steile Treppen dort, bunt gestrichene Wände mit farbenfrohen Nippes und üppige Pflanzen. Doch die wellblechgedeckten Behausungen sind dürftig und klein, auf engem Raum leben viele Menschen. Und die Straßen draußen sind nicht sicher: Bandenkriege gehören zum Alltag, es gibt Drogen, Schießereien, Kugeln, die Unbeteiligte treffen: „Dann hast du Pech gehabt“, erklärt Roderyk. Er ist zehn oder zwölf, und der barrío ist seine Heimat, trotz der Angst. Doch er hat auch einen Bezugspunkt und Zufluchtsort außerhalb: Roderyk spielt Trompete in einem von mehr als 200 venezolanischen Jugendorchestern. Dort hat er einen Freund, mit dem er alles teilt – den Pausensnack und das Trompetenöl, dort sind seine Kumpel, dort hat er Spaß und Erfolgserlebnisse. Er bekommt Instrumentalunterricht, und er musiziert mit den anderen, in der Schule, bei Konzerten. Er träumt davon, IT-Ingenieur, Neurologe oder Musiker zu werden – und er weiß, dass er dafür arbeiten muss. Dranbleiben. Irgendwann wird er vorspielen für die nächste Stufe – ein größeres, anspruchsvolleres Orchester.
Klänge für Frieden, Freude und Hoffnung
Rund 400 000 Kinder und Jugendliche sind heute eingebunden in das kontinuierlich wachsende Musikprojekt, das „el sistema“ genannt wird und heute weltweit als Vorbild und Inspirationsquelle für musikalische und soziale Förderung Anerkennung und Nachahmer findet. 80 Prozent der Kinder und Jugendlichen, die in den Kinder- und Jugendorchestern Venezuelas musizieren, stammen aus armen Familien, für die Musikunterricht und Konzertbesuche normalerweise außerhalb des Horizonts liegen, ganz zu schweigen von akademischen Traumberufen. Dass heute Kinder aus den barríos in vielen Städten Venezuelas nicht nur Instrumente erlernen und aktiv am Kulturleben partizipieren, sondern auch reelle berufliche Perspektiven entwickeln können, ist einem charismatischen Mann zu verdanken, der die verwandelnde Kraft der Musik als Motor für eine positive soziale Entwicklung begreift und nutzt. Musik steht für Frieden, Freude, Hoffnung, Integration und unerschöpfliche Kraft, sagt José Antonio Abreu. Und er kämpft dafür, die Kinder und Jugendlichen in Südamerika im Zeichen dieser Kraft zu vereinen: Im Geist des Miteinanders und der Humanität finden sie Entwicklungschancen und Perspektiven – und bilden selbst eine Gegenkraft zu Verwahrlosung, Ausbeutung, Drogen und Gewalt.
Begeisterung weitertragen
In einer Tiefgarage in Caracas gründet der Musiker und Ökonom José Antonio Abreu 1975 mit zwölf Kindern aus Armenvierteln das erste Jugendorchester Venezuelas. Abreu, geboren 1939 in Valera, ist selbst Musiker. Er lernte Klavier, Geige und Orgel, spielte in Orchestern und beschäftigte sich auch mit der Volksmusik Venezuelas. Und er studierte Betriebs- und Rechtswissenschaften, promovierte in den USA, wurde Berater und Kulturminister. Seine umfassende Bildung und seine Leidenschaft stellte er von Anfang an in den Dienst der Idee, mit der Kraft der Musik einen sozialen Wandel zu bewirken. Früh gewann er Mitstreiter, die sich von ihm anstiften und begeistern ließen und diese Begeisterung weitertragen. Mit beeindruckender Konsequenz gelang und gelingt es ihnen, über alle Hindernisse hinweg und ungeachtet mehrerer Regierungswechsel die Unterstützung durch die Behörden zu sichern und Unternehmen zu überzeugen, die durch ihre Beiträge weitere Investitionen – beispielsweise in Instrumente – ermöglichen.
Mit Kreativität den Mangel überlisten
Der Anfang in den 70er- und 80er-Jahren galt der Ausbildung einer Lehrergeneration. Viele junge Musiklehrer, die heute unterrichten, kommen selbst aus diesen Musikschulen und Jugendorchestern. Sie kennen die Lebensverhältnisse der Kinder und Jugendlichen, sie lehren nicht nur Bogenhaltung und Tonarten, sondern sind Bezugspersonen und Zuflucht, Trostspender und Mutmacher. Mit Fantasie und Kreativität gestalten sie den Unterricht und gewinnen sogar dem Mangel etwas Positives ab: Als Instrumente knapp waren, kam die Idee auf, mit den Kleinsten Papierinstrumente zu bauen – Geigen, Bratschen, Celli aus Pappmaschee, braun lackiert und mit Fäden bezogen. Mit diesen Instrumenten lernen die Kinder spielerisch Bogenhaltung und Orchesteraufstellung, üben Einsätze und Notenwerte, die im Chor gesungen werden: Heute sind die „Papierorchester“ die „Vorschule“ des Orchestersystems.
Eine Idee wächst und treibt Blüten
„el sistema“ beruht nicht auf einem Masterplan, sondern ist eine bewegliche Struktur, die sich mit den Anforderungen und Gegebenheiten weiterentwickelt. „Eine gute, edle Idee muss multiplizierbar sein“, erklärt Abreu. Und so wächst „el sistema“ nach dem Schneeballsystem. „El nucleu“ – wörtlich: der Kern, die Keimzelle – ist die Musikschule: lokal, vor Ort, wo die Menschen leben. Inzwischen gibt es sogar nucleu auf den Müllhalden, wo die Ärmsten der Armen leben – auch dort wirken engagierte Lehrer, wirkt die Kraft der Musik und des gemeinsamen Musizierens: Die Entdeckung des Klangs, die ersten gelungenen Töne, das Glück einer richtig beantworteten Frage, ein gemeinsames Lied – all das bringt die Augen dieser jungen Menschen zum Leuchten, die zwischen den Überresten der Konsumgesellschaft ein kärgliches Dasein fristen und wenig Anlass zur Freude haben.
Materielle Armut durch geistigen Reichtum überwinden
Ein wichtiger Aspekt: In der Musikschule erfahren sie Wertschätzung, die ihnen sonst versagt bleibt. Und sie erleben, dass sie etwas tun, etwas bewirken können, mit ihren Mitteln. Musik spielt eine wichtige Rolle bei der Persönlichkeitsentwicklung, denn sie fördert nicht nur das intellektuelle Wachstum, sondern auch das ästhetische Empfinden und die Sensibilität. Und im Unterschied zu anderen Künsten bringt die Musik soziale Einheiten wie Chöre und Orchester hervor. Die zahlreichen Chöre und Orchester für unterschiedliche Altersgruppen und musikalische Reifestufen bilden das Rückgrat und die Struktur von „el sistema“. In ihnen erleben die Kinder und Jugendlichen soziale Gruppen positiv: Sie spielen miteinander, erfahren Respekt und Solidarität und erleben sich selbst als Individuen und als Teil einer Gemeinschaft, statt soziale Anerkennung auf der Straße suchen zu müssen. Und spätenstens wenn sie in die nächste Orchesterstufe vorstoßen wollen, lernen sie auch, dass Teamgeist und Wettbewerb einander nicht ausschließen.
Das Geheimnis: Lebe die Musik!
Was vor 23 Jahren mit einer Musikschule begann, ist heute das venezolanische Wunder: Rund 400 000 Kinder und Jugendliche musizieren heute in einem Chor oder Orchester des Systems in Venezuela, in zehn Jahren sollen es eine Million sein. Doch die Zahl ist nur ein Aspekt, es geht auch um künstlerische Qualität. „Gesellschaftlich betrachtet, holen wir sie aus der Armut – aber dabei entsteht richtig gute Musik!“, erklärt der junge venezolanische Dirigent Gustavo Dudamel, der berühmteste Repräsentant von „el sistema“. Dudamel, der 2004 den Gustav-Mahler-Dirigierwettbewerb gewann und binnen weniger Jahre Chefdirigent der Göteburger Symphoniker und des Los Angeles Philharmonic Orchestra wurde, ist mit seinem Simón Bolívar Symphony Orchestra zum dritten Mal Gast bei den Salzburger Festspielen. Auch andere Musiker wie Christian Vásquez oder Diego Matheuz zeigen, dass Breitenförderung Spitzenleistungen erst ermöglicht. Entscheidend ist – und das ist das Geheimnis von „el sistema“ –, dass alle Beteiligten die Musik wirklich empfinden, sagt Gustavo Dudamel. Wer die Musik fühlt, wen die Freude an der Musik erfüllt, der wird auch die Technik entwickeln. Doch das Wichtigste ist: „Lebe die Musik!“ Das spüren auch die Zuhörer, wenn Roderyk in seine Posaune bläst.
Text: Barbara Maria Zollner
Informationen
http://www.salzburgerfestspiele.at
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