Die älteste erhaltene Indianerpfeife, ein indisches Götzenkästchen, ein tätowierter Fisch und andere Merkwürdigkeiten in der Kunst- und Naturalienkammer zeugen noch heute vom universalen Bildungsinteresse an den Schulen der Franckeschen Stiftungen zu Halle.
Vor über 300 Jahren wurden die Franckeschen Stiftungen von August Hermann Francke (1663–1727) als umfassendes Bildungs- und Sozialwerk gegründet. Mit dem Bau eines Waisenhauses im Jahr 1698 setzte der Theologe den sozialen Problemen seiner Zeit ein Beispiel praktischer Nächstenliebe entgegen. Ein vielgliedriges Schulsystem sollte Arme und Waisenkinder fördern. Daneben etablierte sich das im selben Jahr für den europäischen Adel eröffnete Königliche Pädagogium schnell zu einer der bekanntesten Schulen Preußens. Die blühende Schulstadt verfügte bereits im 18. Jahrhundert über wertvolle Lehrsammlungen, darunter eine bedeutende Bibliothek, Schulgärten sowie eine Wunderkammer, die heute als die einzige vollständig erhaltene Kuriositätenkammer Europas gilt.
Mit Unterstützung seines Landesherrn, Kurfürst Friedrich III. von Brandenburg, baute August Hermann Francke eine Kunst- und Naturalienkammer eigens für den Schulunterricht auf, deren aufgeklärtes pädagogisches Konzept der Bildung durch Anschauung den Ausgangspunkt der Realschule in Deutschland bildet. Anders als heutige Museen veranschaulicht die Kammer eine universale Weltsicht, nach der alle Bereiche des Lebens und alle Wissensgebiete in einem Zusammenhang betrachtet werden. So vermittelte die Kammer für den Menschen damals wie für uns heute einen Eindruck von der unermesslichen Vielfalt der göttlichen Schöpfung. Mit ihren rund 3000 Naturalien, Kuriositäten und Artefakten aus aller Welt ist die Wunderkammer nach dem originalen Museumskonzept des 18. Jahrhunderts in der Mansarde des Historischen Waisenhauses zu erleben.
Über den vorwiegend von Fachwerkbauten gesäumten Lindenhof gelangt der Besucher zur Bibliothek von 1728, deren Architektur und bibliophile Kostbarkeiten schon Johann Joachim Winckelmann und Johann Wolfgang von Goethe bewunderten. Wie Theaterkulissen ragen die marmorierten Bücherregale in den Bibliothekssaal hinein, überspannt von barocken Korbbogen. Hinter unscheinbaren Buchrücken verbergen sich die erstaunlichsten Schätze, so etwa die erste deutsche Bibel, die in Amerika gedruckt wurde, und über 30 000 weitere, zum Teil sehr seltene Bücher.
Das weltweit einmalige Bauensemble steht mit seinen wertvollen Sammlungen heute auf der Vorschlagsliste der UNESCO. Die Sehenswürdigkeiten befinden sich inmitten eines lebendigen Bildungskosmos mit Schulen, Internaten, Universitätscampus, Parks, einer Buchhandlung und vielem mehr. Epochemachenden Ereignissen und bedeutenden Jubiläen in der Kulturgeschichte der frühen Neuzeit widmen sich die jährlichen Sonderausstellungen im Historischen Waisenhaus.
Jahresausstellungen im Historischen Waisenhaus:
Freiheit, Fortschritt und Verheißung
Ein kulturhistorisches Panorama zur Entdeckungs- und Besiedlungsgeschichte Nordamerikas
bis 3. Oktober 2011
Weil sie die Seelen fröhlich macht
Protestantische Musikkultur seit Martin Luther, lebendig inszeniert mit herausragenden Werken und modernen Hörstationen
Mai bis September 2012
Franckes Gewissheit
Zum 350. Geburtstagsjubiläum August Hermann Franckes (1663–1727)
März bis Juli 2013
Informationen
Franckesche Stiftungen
Historische Schulstadt mit Waisenhaus,
Kunst- und Naturalienkammer,
Sing- und Betsaal, Kulissenbibliothek,
Francke-Wohnhaus
Franckeplatz 1, D-06110 Halle
Tel. +49 (0) 345/212 74 50
Di–So und Fei 10–17 Uhr
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