„Mythen sind Geschichten von hochgradiger Beständigkeit ihres narrativen Kerns“, meinte einst der deutsche Philosoph Hans Blumenberg und setzte damit einen Kontrapunkt zur Theorie von Roland Barthes. Seine These lässt sich nun bei den Salzburger Festspielen überprüfen, im Rahmen eines Festivals also, das mittlerweile selbst zu einem österreichischen Mythos wurde. Das in der derzeitigen Intendanz Jürgen Flimms von Thomas Oberender verantwortete Schauspielprogramm analysiert auf spannende Weise den sich seit Jahrhunderten wandelnden Begriff und setzt ihn in einen programmatischen Kontext zum 90-jährigen Jubiläum der Festspiele, die von Max Reinhardt (Regisseur), Hugo von Hofmannsthal (Schriftsteller, Dramatiker und Librettist), Richard Strauss (Komponist), Alfred Roller (Bühnenbildner) und Franz Schalk (Hofoperndirektor) ins Leben gerufen wurden.
Daher erscheint es nur folgerichtig, dass Peter Stein, der von 1991 bis 1997 während der Intendanz des großen Erneuerers Gérard Mortier selbst das Schauspiel des berühmten Festivals leitete, Sophokles’ wuchtige Tragödie Ödipus auf Kolonos (mit Klaus Maria Brandauer in der Titelrolle!) auf der Pernerinsel in Szene setzt. Die Beschäftigung mit diesem Stoff eint Peter Stein übrigens mit zwei Festspielgründern: Hofmannsthals Ödipus und die Sphinx wurde 1906 von Max Reinhardt erstmals in Berlin auf die Bühne gebracht.
Ebenfalls mit der antiken Mythologie und deren Bedeutung für die Gegenwart setzt sich Matthias Hartmann in Salzburg auseinander: In der vom Burg-Direktor inszenierten Tragödie Phädra stellt Jean Racine, der am Hof des französischen Sonnenkönigs Ludwig XIV. oft genug boshafte Intrigen und knallharte Machtspielchen beobachten konnte, grundsätzliche Fragen zum Begriff der Tugend. Als die rachsüchtige, ihren Stiefsohn liebende Königin ist Sunnyi Melles wieder bei den Festspielen zu erleben, ihren Gatten Theseus gibt Paulus Manker.
Max Reinhardt und Hugo von Hofmannsthal bilden überdies die Angelpunkte für weitere Produktionen der Salzburger Festspiele. Hier ist natürlich der Jedermann zu nennen: Mit Nicholas Ofczarek als jüngstem Jedermann der Festspielhistorie und Birgit Minichmayr als Buhlschaft sind in Christian Stückls gelungener Interpretation nun zwei fantastische Schauspieler zu sehen, die der schönen Tradition der Festspiele, auch und vor allem ein Ort großer Künstler zu sein (man denke nur an Curd Jürgens oder Gérard Depardieu), eine würdige Reverenz erweisen. Überdies erinnern die Festspiele an den charismatischen Reinhardt mit einer Einladung in sein Rokokoschloss Leopoldskron und heißen zu einem sinnenfrohen Picknick in dessen weitläufigem Park willkommen. Dieser (leider schon ausverkaufte) Abend steht ganz im Zeichen des Sommernachtstraums: Neben Szenen aus Shakespeares Klassiker ist auch Reinhardts berühmte Hollywoodverfilmung (1935) in ihrer Originalversion zu erleben.
Mit Claudio Magris wiederum, der „als Dichter zu Gast“ bei den Festspielen weilt, wird der Themenkomplex „Mythos“ mit der österreichischen Geschichte (und damit auch jener der Salzburger Festspiele) auf geradezu exemplarische Weise verknüpft. Der in Triest geborene Germanist und Kulturpublizist, im Oktober 2009 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet, publizierte unter anderem mit Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur (1963) und mit Donau (1986) maßgebliche Werke zur kulturellen Geschichte und Bedeutung Mitteleuropas. In Salzburg wird Magris mit dem deutschen Historiker Karl Schlögel „Das Weltreich der Melancholie“ diskutieren und mit dem Musiker Hubert von Goisern über die von ihnen unternommenen Donaureisen sprechen. Die jüngere Geschichte der Alpenrepublik wiederum wird in der Reihe „Blicke ins Innere Österreichs“ thematisiert, in deren Rahmen sich Magris anhand dreier Filme mit Wien 1989 (Fall des Eisernen Vorhangs), Linz 1934 (Bürgerkrieg) und Salzburg 1943 (Naziterror) auseinandersetzt und Gespräche dazu etwa mit Götz Spielmann, Michael Stavaricˇ und Franzobel führt. Als weiteren Anknüpfungspunkt zum Thema „Mythos“ liest Senta Berger überdies aus Magris’ Orpheus-und-Eurydike-Paraphrase Verstehen Sie mich bitte recht im Landestheater.
Von maßgeblicher Bedeutung für die Mythisierung der Wirklichkeit ist, neben Joseph Roth, für Claudio Magris vor allem der sensible Humanist und Menschenfreund Stefan Zweig. 1942 schied der verzweifelte Schriftsteller im brasilianischen Exil durch Selbstmord aus dem Leben – im gleichen Jahr, in dem Stardirigent Clemens Krauss von den Nazis als Intendant der Salzburger Festspiele installiert wurde. Dem Wahlsalzburger Zweig erweist das Festival an der Salzach nun erstmals im Schauspielprogramm seine Reverenz: Der wunderbare Jossi Wieler inszeniert eine Adaption von Zweigs 1920 veröffentlichter Novelle Angst (mit André Jung, Elsie de Brauw, Katja Bürkle und Stefan Hunstein). In dieser Novelle, die von einer Frau handelt, die erpresst wird, wirft Zweig einen scharfsinnigen Blick auf eine Gesellschaft, die nur den verlogenen Umgang mit der Dialektik von Lüge und Wahrheit kennt. Aus dem Nachlass von Stefan Zweig schließlich stammt die noch weitgehend unbekannte Novelle Widerstand der Wirklichkeit, die von Klaus Maria Brandauer im Landestheater gelesen wird.
Auch im Young Directors Project finden sich Expeditionen in die Psyche ebenso wie die Erforschung des Themas „Mythos“. So führt Jakop Ahlbohm in seiner von magischen Bildern durchtränkten Inszenierung Innenschau in eine bizarre Welt, in der Menschen von ihren Fantasien und geheimen Wünschen getrieben werden. Der junge, in Schweden geborene und nun in den Niederlanden lebende Regisseur, der sich intensiv mit Persönlichkeitsstörungen auseinandersetzt und dessen Arbeiten oft Welten beschreiben, die an der Grenze zum Unbewussten angesiedelt sind, verknüpft in seiner sechsten Produktion mittels einer faszinierenden Mischung aus Tanz, Mime und Livemusik (Alamo Race Track!) die Leben einer Krankenschwester, eines Stalkers und eines entlassenen Bankangestellten. Der Trailer zu dieser Produktion ist übrigens auf YouTube zu sehen.
Einer der großen Mythen der europäischen Politik- und Geistesgeschichte hingegen steht im Zentrum von Notre terreur (Im Bann des Schreckens). Regisseur Sylvain Creuzevault und seine Theatercompagnie d’ores et déjà („schon jetzt“) schildern auf Grundlage verschiedener literarischer und historischer Quellen die Geschichte der Französischen Revolution und den Tod von Robespierre, dessen Interpretation der Rousseau’schen Thesen von einer aufgeklärten Gesellschaft in einem Blutbad endete. „Das Ideal der Gleichheit verbindet die revolutionäre Regierung Frankreichs von 1793/94 und die großen Revolutionen des 20. Jahrhunderts“, erklärt der 1982 in Paris geborene Creuzevault. „Wie kann das Theater dem Schrecken der Revolution ins Auge blicken? Um uns diese Frage zu stellen, mussten wir dem Fluss bis zu seinem Ursprung folgen. Wir mussten das Leben eines Mannes in der Zeit um 1793/94 studieren, in jenem Moment, da die Freiheit zur Tyrannei wurde. Dieser Mann durfte kein geborener Anführer sein; wir suchten einen Mann ohne sonderliches Gefühl für Dramatik, einen Menschen mit Mängeln und somit eher das Gegenteil eines Helden – einen Mann also, dessen demokratisches Ideal keine Einschränkung durch die Wirklichkeit zuließ. Schließlich suchten wir nach einer Möglichkeit, uns einem Geist und einem Körper gegenüberzustellen, aus dem ein Konflikt ersichtlich wird. Robespierre ist unser Mann.“
Auch Jon Fosse beschäftigt in seinem Stück Tod in Theben die Frage nach der individuellen Freiheit des Menschen, doch siedelt er seine Untersuchung in der Mythenwelt des antiken griechischen Theaters an. In der Fassung des norwegischen Dramatikers verdichten sich die drei großen Tragödien Sophokles’ über den Aufstieg und Fall König Ödipus’, sein Exil auf Kolonos und das verhängnisvolle Schicksal seiner Tochter Antigone zu einem Drama von äußerster Reduktion und großer emotionaler Intensität. Die Salzburger Festspiele präsentieren nun die deutschsprachige Erstaufführung in der Inszenierung von Regisseurin Angela Richter.
Aus Belgien (konkret Lüttich) schließlich kommt die vierte Produktion des Young Directors Project. Im Zentrum von Mary Mother of Frankenstein steht die Schriftstellerin Mary Shelley, Autorin des 1818 erschienenen Romans über die Erschaffung eines künstlichen Menschen – ein Meilenstein der fantastischen Literatur ebenso wie eine visionäre Prophezeiung der aktuellen Entwicklung etwa
im Bereich der Biotechnologie. Die bildgewaltige Performance von Regisseur Claude Schmitz und Filmemacherin Marie-France Collard untersucht verschiedene Aspekte dieser literarischen Vorlage, wobei man durchaus Bezüge zu Mary Shelleys eigener Biografie herstellen kann. Denn deren Leben verlief bekanntlich tragisch: Drei ihrer Kinder starben, ihre Schwester beging Selbstmord, ihr Mann, der charismatische Dichter Percy Shelley, ertrank im Gold von La Spezia. Mary Shelley, Tochter eines Sozialphilosophen und einer Feministin, erlebte die hochfliegenden Ideale und das Scheitern der außergewöhnlichen Menschen in ihrem Umfeld – Percy Shelley, Lord Byron und Claire Clairmont (Byrons Geliebte und ihre Stiefschwester). Ihre eigenen Werke wurden seit den 1970er-Jahren, unter anderem dank der feministischen Literaturwissenschaft, neu rezipiert.
www.salzburgfestival.at
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