2002: Don Giovanni, Thomas Hampson (Don Giovanni) © Hans Jörg Michel Lulu 2010, Vera NemirovaDionysos, Wolfgang Rihm © Universal Edition/Eric MarinitschVerbrechen und Sühne, Jens Harzer (Raskolnikow) © Bernd Uhlig

90 Jahre Salzburger Festspiele – Musiktheater: Arbeit am Mythos

Mit explizitem Bezug auf die Stoffe der griechischen Antike führen die Salzburger Festspiele in diesem Sommer ihre Auseinandersetzung mit den großen Menschheitsthemen fort: als „Arbeit am Mythos“. So nannte der Philosoph Hans Blumenberg die Rückbezüge, Fortschreibungen und Neudeutungen jenes Vorrats von Erzählungen, die – obwohl längst nicht mehr kultisch verankert oder religiös geglaubt – immer noch und immer wieder sinn- und gemeinschaftsstiftend wirken.
Herbert-von-Karajan-Platz 11, A-5010 Salzburg

Frühere Festspielthemen haben das diesjährige Motto „Mythen“ präludiert, galt doch dem aufgeklärten Bewusstsein der Mythos als „Nachtseite der Vernunft“; die Beschäftigung mit dem „Spiel der Mächtigen“ richtete den Blick auf Herrschaft, Legitimation und Machtmissbrauch von Menschen. Deren Ursachen aber liegen tiefer, ferner: Wenn sich die Tragödie einer Ariadne oder Elektra (oder Chrysothemis oder Orests) dramatisch entfaltet, dann liegen die Ursachen Generationen zurück. Schuld vererbt sich als Fluch, das ist eine Wahrheit des Mythos, und der Fluch löst das Individuum aus seiner Gesellschaft, seiner (ohnehin nur imaginierten) Geborgenheit, treibt es in die Enge, in den Tod. Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts erlebten die antiken Mythen ein Revival, eine eigenwillige und immer noch nachwirkende Revision. Das Lebensgefühl der frühen Moderne: die bis ins beinahe Unmenschliche ragende Vergrößerung des Individuums, seine ins Ungesellschaftliche führende Vereinsamung, das Gefühl von Verhängnis, das merkwürdig gekoppelt ist an die Freiheit, die aus der Auflösung aller Ordnungen resultiert – all das spiegelt sich in Mythenaneignungen, die die „edle Einfalt, stille Größe“ der historistischen Antikenadoration vom Sockel holten und die Vorlagen in ihrer schockierenden Gewalttätigkeit benutzen, um die Abgründe der menschlichen Seele auszuloten.
Das Meisterwerk schlechthin in diesem Zusammenhang ist Elektra, Ergebnis der ersten Zusammenarbeit der Festspielgründer Hugo von Hofmannsthal, Richard Strauss und Max Reinhardt; 2010 inszeniert Nikolaus Lehnhoff, Daniele Gatti übernimmt die musikalische Leitung dieser Neuproduktion, die mit einer exquisiten Besetzung aufwartet: in der Titelpartie Iréne Theorin (die Bayreuther Isolde), Waltraud Meier als Klytämnestra, Eva-Maria Westbroek als Chrysothemis und René Pape als Orest.
Nicht antik, doch explizit als mythische Figur schuf der Hofmannsthal-Zeitgenosse Frank Wedekind seine Dramengestalt Lulu (die Stücke heißen Erdgeist und Die Büchse der Pandora). Alban Berg verlieh ihr in seiner Oper Lulu menschlichere Züge. „Geschaffen, Unheil anzustiften, zu locken, zu verführen, zu vergiften“, zeichnete Wedekind die Frau als Verhängnis, als Schlange im Paradies – ein „Männertrauma“ (Hans Mayer). So schuf sich die Psychopathologie des Jahrhundertanfangs einen eigenen Mythos. Eros und Todestrieb treiben die Figuren in den Abgrund. Dank Alban Berg fesselt Lulu noch immer, und man ist gespannt, wie Vera Nemirova dieses fabelhaft besetzte Werk inszeniert (mit Patricia Petibon, Michael Schade, Michael Volle, Pavol Breslik und Franz Grundheber; die musikalische Leitung hat Marc Albrecht).
Als Hofmannsthal sein Schauspiel schuf, das dann zur Opernvorlage wurde, knüpfte er an Nietzsches bilderstürmerisches Manifest Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik an; auch Richard Strauss ging es darum, „das dämonische, ekstatische Griechentum des 6. Jahrhunderts Winckelmann’schen Römerkopien und Goethe’scher Humanität entgegenzustellen“. An der Schwelle zu den gewaltigen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts mutet der Appell „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut“ wie ein Echo aus ferner Zeit an; der Traum von der Vernunft war ausgeträumt. Der Mythos wusste schon immer: Kein Ausweg ist möglich außer dem Eingreifen eines Gottes.
In Glucks Lesart von Orfeo ed Euridice passiert genau dies: Das Unmögliche wird möglich – die Unterwelt gibt eine Tote frei, und Orpheus erhält die zweimal verlorene Eurydike zurück.
Der halb göttliche Sänger Orpheus, Sohn des Apoll oder Sohn des Dionysos (es gibt beide Lesarten), drang bis ins Reich des Todes vor und bezwang mit seiner Musik die Unterwelt: Ist es sein dionysisches Erbe – die Trance, die alle Gesetze der Natur und der Götter für die Dauer des betörenden Gesangs außer Kraft setzt? Oder das apollinische Licht, das von der Leier in die Düsternis des Hades strahlt? Die Bedingung aber, unter der Orpheus Eurydike mitnehmen darf, ist einem fühlenden Wesen unerfüllbar: Er darf sich nicht nach ihr umsehen. Als sie zweifelt, klagt und leidet, dreht er sich um – aus Liebe. Und verliert sie aufs Neue. Ist es wirklich Erbarmen zu nennen, dass Amor die Liebenden dann zusammenführt? Orpheus habe genug gelitten, sagt der Gott, „per gloria mia“ – zu seinem Ruhm. Selbst in der Feier der Liebe steckt noch die Eigensucht der Götter, deren Spielball der Mensch ist.
Des Orpheus ambivalente Wesensart hat viele Dichter beschäftigt, die Frage, wes Geistes der Musensohn mit apollinischen und dionysischen Zügen wirklich ist. Je deutlicher wird, dass die Welt im Zeichen der Aufklärung von der Sonne Apolls beschienen nicht vollkommen, ja nicht einmal richtig vernünftig geworden ist, desto verlockender und sinnstiftender erscheint das Dionysische – Projektionsfläche für die Leerstellen des Rationalismus. Dionysos – als Gott, als Prinzip, Archetyp oder als Erfahrungshorizont – ist uralt und immer jung. Keine Kunst ohne Rausch und Ekstase, ohne Entgrenzung und Wahn (aber auch keine Kunst ohne Askese, Verneinung und Form). Der Verkünder und Sänger des Dionysos am Anbruch der Moderne war Friedrich Nietzsche; der zuletzt dem Wahnsinn verfallene Philosoph und Dichter spiegelte sich selbst in seiner Figur. Wolfgang Rihm greift diese Spiegelung in seinem neuen Musiktheaterwerk Dionysos auf, das unter der Leitung von Ingo Metzmacher in einer Inszenierung von Pierre Audi und im Bühnenbild von Jonathan Meese uraufgeführt wird (mit Johannes Martin Kränzle, Mojca Erdmann und Matthias Klink). Eine Konzertreihe mit dem Titel „Kontinent Rihm“ ermöglicht die Begegnung mit weiteren Werken eines der faszinierendsten und produktivsten Komponisten unserer Tage.

Informationen
www.salzburgfestival.at

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