Bild: Bertrand de Billy Bild: François-Xavier Roth Bild: Jonathan Stockhammer

Wanderer zwischen den Welten

Mit einer Konzertreihe würdigen die Salzburger Festspiele einen der wichtigsten Komponisten der Moderne, Edgard Varèse (1883–1965). In acht Konzerten kommt sein schmales, selten zu erlebendes Werk fast vollständig zur Aufführung. Zu erwarten sind großartige Hörerfahrungen, die sich niemand, der sich für die Moderne interessiert, entgehen lassen sollte.
Herbert-von-Karajan-Platz 11, A-5010 Salzburg

Edgard Varèse ist eine zentrale Gestalt in der Musik des 20. Jahrhunderts, doch das zugängliche Gesamtwerk passt auf zwei CDs. Er gilt als Vater der elektronischen Musik, doch seine Art zu komponieren
hat keine direkten Nachfahren oder Schüler hervorgebracht. Er war – im Leben und im Werk – ein Mensch der Moderne und bezog sich zugleich sehr bewusst auf die Kunst des Mittelalters und der Renaissance als seine kulturellen Wurzeln. Er war an den Kristallisationspunkten künstlerischer Erneuerung stets dabei und involviert – und blieb letzten Endes doch bei und für sich, ein Einzelner: dem Neuen auf der Spur, auf der Suche nach der Befreiung des Klangs, angetrieben von der Vision, neue Instrumente und neue Dimensionen des Hörbaren zu entwickeln. Er ließ sich keiner Schule oder Strömung zuordnen; Systeme und Ismen lehnte er explizit ab und trat für die Überzeugung ein, dass Kunst Ausdruck des Individuums sei und sein müsse. Jenseits der Zwölftontechnik einerseits und neoklassizistischer Satztechnik andererseits entwickelte Varèse seine eigene musikalische Sprache, die mit Umschreibungen wie „tönende Skulptur“ oder „Klangarchitektur“ vielleicht noch am besten zu charakterisieren ist. Doch seine Musik hat nichts Konstruiertes, sondern ist unmittelbar packend – kraftvoll, dabei poetisch und von frappierender Modernität.
Edgard Varèse, 1883 in Paris geboren, verbrachte die ersten zehn Lebensjahre bei Verwandten der Mutter im Burgund, auf das er sein ganzes kosmopolitisches Leben lang (er wohnte in Berlin, Paris, New York, Santa Fé …) immer bezogen blieb: als Kindheitsparadies ebenso sehr wie als Ort der ersten prägenden Eindrücke, die sein künstlerisches Schaffen beeinflussen sollten. In der romanischen Kathedrale zu Tournus kam er in Berührung mit Orgelmusik und Gregorianik, und in ihrer Architektur sah Varèse Strukturen vorgeformt, die er in seiner Musik erstrebte: „I wanted to find a way to project in music the concept of calculated or controlled gravitation, how one element pushing the other stabilizes the total structure, thus using the material elements at the same time in opposition to and in support of one another.“ (Dieses Prinzip kalkulierter oder kontrollierter Gravitation, bei dem die Stabilität der Struktur entsteht, indem ein Element gegen das andere drückt, sodass die einzelnen Elemente gegeneinander gerichtet sind und einander gleichzeitig unterstützen – dieses Prinzip auf die Musik zu übertragen, dafür suchte ich einen Weg.)
Seine musikalische Ausbildung begann Varèse gegen den väterlichen Widerstand bei Giovanni Bolzoni in Turin, wohin die Familie auf Betreiben des italienischen Vaters 1893 übersiedelt war. Nach dem Bruch mit dem Vater besuchte er ab 1904 die Schola Cantorum in Paris; wichtiger familiärer Bezugspunkt blieb der Großvater im Burgund, den er regelmäßig besuchte. Varèse’ Kompositionen aus dieser Zeit sind – mit Ausnahme einer einzigen Liedvertonung eines Gedichts von Paul Verlaine (Un grand sommeil noir) – verloren; die überlieferten Titel, etwa Apothéose de l’océan, Poème de brunes oder Les cycles du nord, lassen darauf schließen, dass sie in der Tradition der französischen symphonischen Dichtung standen, wohl in Anknüpfung an Claude Debussy, den Varèse sehr schätzte. In mindestens zwei Werken setzte Varèse den Impressionen aus Burgund ein Denkmal: Rhapsodie romane und Bourgogne.
Letztere wurde auf Betreiben von Richard Strauss in Berlin uraufgeführt, wohin Varèse 1907 übersiedelte. Die Musikkritik dort schätze das Werk nicht („ein geradezu ungeheuerlicher Farbklecks“), doch andere hörten darin Qualitäten – und der selbstkritische Varèse selbst führte die Partitur über die vielen Wohnortwechsel seines Lebens hinweg stets mit sich, ehe er sie 1961 in einer depressiven Phase vernichtete. Von Berlin versprach sich Varèse eine größere Aufgeschlossenheit für neue Bestrebungen in der Musik: Er erlebte die Uraufführung von Arnold Schönbergs Pierrot lunaire, hatte Kontakt mit Hugo von Hofmannsthal, dessen Ödipus und die Sphinx er als Oper vertonen wollte, und zu dem bewunderten Richard Strauss. Und er verkehrte bei Ferruccio Busoni, von dessen Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst er fasziniert war; von den zum Klassizismus neigenden Werken des älteren Komponisten hielt er weniger.
Die begierige Suche nach dem Neuen, die Bereitschaft zur Grenzüberschreitung, das Erprobenwollen von noch nicht Gekanntem verband Varèse mit unterschiedlichen progressiven Künstlergruppen: den italienischen Futuristen oder – später – den französischen Surrealisten und Dadaisten. Doch im Unterschied zu ihnen wollte er weder eine bindende neue Kunstrichtung begründen noch das Alte zerstören: Im Gegenteil, er schätzte gerade die alte Musik hoch, gründete immer wieder Chöre – in Berlin, später in New York und Santa Fé –, mit denen er, zu dieser Zeit durchaus ungewöhnlich, Werke von Guillaume de Machaut, Heinrich Schütz, Marc-Antoine Charpentier und anderen aufführte.
Varèse’ Ansichten über die Musik anderer Komponisten waren in der Regel direkt, in der persönlichen ästhetischen Neigung begründet und nicht von Rücksichtnahmen bemäntelt – vielleicht verbanden ihn auch deshalb zeit seines Lebens freundschaftliche Beziehungen mehr mit Literaten und bildenden Künstlern als mit Komponisten. Zu den wenigen, die er bewunderte, zählte Béla Bartók; für Schönberg hatte er wenig übrig und hielt die Zwölftonmusik für einen Irrtum („Arterienverkalkung“): Was sollte die bloße Aufhebung der Hierarchie der Töne, wenn das Ziel für Varèse die Bereicherung des musikalischen Ausdrucksspektrums durch die Erweiterung der Klangmöglichkeiten war? Für Varèse sollte der Künstler zwar nicht als Avantgarde die Zukunft antizipieren, aber in seiner Zeit leben und in seiner Kunst neue, ihr angemessene Mittel und Möglichkeiten entwickeln.
Aufbruch, Freiheit, Modernität – das waren die Hoffnungen, welche die junge Pariser Kunstszene auf New York setzte, und all das hatte sich auch Varèse versprochen, als er nach einem Intermezzo in Paris nach New York ging. Dort fand er Anschluss an den französischen Künstlerkreis um Marcel Duchamp, Francis Picabia und Man Ray; bald gründete er ein Sinfonieorchester zur Aufführung zeitgenössischer Werke und unbekannter alter Musik. Denn seine manchmal herben Kommentare zur Musik anderer hinderten Varèse nicht daran, sich immer wieder für Aufführungsmöglichkeiten von Zeitgenossen einzusetzen: 1921 gründete er zu diesem Zweck mit dem Harfenisten Carlos Salzedo die International Composers’ Guild, um Werke europäischer Komponisten in den USA aufzuführen; Ende der 20er-Jahre, als ihm die europäische Entwicklung zum Neoklassizismus missfiel, war er – inzwischen amerikanischer Staatsbürger – an der Gründung der Pan-American Association of Composers beteiligt, die nord- und südamerikanische zeitgenössische Musik durchsetzen sollte.
Sein Leben lang verfolgte Varèse das Ziel, neue Instrumente zu entwickeln, die das klangliche Spektrum erweitern würden – zwei Oktaven nach oben und stufenlos gleitende Tonhöhenveränderungen, quasi mikrotonale Modulationen, schwebten ihm vor, und deshalb – nicht etwa wegen des äußerlichen Effekts – nutzte er immer wieder die Sirenen, die er auf einem Pariser Flohmarkt erworben hatte. Er interessierte sich für das von dem italienischen Futuristen Luisi Russolo erfundene „Russolofon“ und verfolgte und nutzte spätere elektronische Neuentwicklungen wie Theremin oder Ondes Martenot. Er wünschte sich die Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern und suchte immer wieder nach Unterstützung für ein Laboratorium, um mit Klängen zu experimentieren. Ende der 30er-Jahre versuchte er vergeblich, in Los Angeles Filmproduzenten für eine Zusammenarbeit im Tonstudio zu gewinnen. Erst Anfang der 50er-Jahre bekam er einen Bandrekorder, mit dem er endlich seinem Ziel näherkam. Mittlerweile war seine Kompositionstechnik so ausgereift, dass es ihm gelang, Orchesterkompositionen fast wie elektronische Musik klingen zu lassen: Sein großartiges Déserts kann mit und ohne Tonband aufgeführt werden. Für den französischen Pavillon von Le Corbusier auf der Expo in Brüssel 1958 schuf er mit dem Poème électronique eine reine Tonbandkomposition. Erst in den frühen 60er-Jahren, den letzten Jahren seines Lebens, nahm ihn die musikalische Welt allmählich in ihre Mitte auf; nachfolgende Komponistengenerationen, die mit anderen kompositorischen Ansätzen und viel reicheren technischen Möglichkeiten seine Erforschung neuer Klangwelten weitertrieben, waren von seinen Klangwelten fasziniert und sind es bis heute.
Konzerte
The Percussive Planet Ensemble, basel sinfonietta,
Dirigent: Jonathan Stockhammer; Nicolas Hodges
(Klavier), Martin Grubinger (Schlagzeug)
Edgard Varèse, Iannis Xenakis,
Giacomo Manzoni
5. August 2009, 20 Uhr, Felsenreitschule

les jeunes solistes, Klangforum Wien,
Dirigent: Sylvain Cambreling;
Antoine Tamestit (Viola)
Luigi Dallapiccola, Edgard Varèse,
Morton Feldman
7. August 2009, 20.30 Uhr, Kollegienkirche

les jeunes solistes, Dirigent: Rachid Safir;
Klangforum Wien, Dirigent: Sylvain Cambreling
Claudio Monteverdi, Olga Neuwirth
8. August 2009, 20.30 Uhr, Kollegienkirche

Radio-Symphonieorchester Wien,
Dirigent: Bertrand de Billy
Arnold Schönberg, Edgard Varèse,
Richard Strauss
10. August 2009, 20 Uhr, Felsenreitschule

Ensemble Modern Orchestra,
Dirigent: François-Xavier Roth
Edgard Varèse, James Tenney, Wolfgang Rihm, Luigi Nono
11. August 2009, 20.30 Uhr, Kollegienkirche
Ensemble Modern Orchestra, Dirigent: François-
Xavier Roth; Julie Moffat (Sopran), Dietmar Wiesner (Flöte), Otto Katzameier (Bariton)
Edgard Varèse, Tristan Murail, Iannis Xenakis
12. August 2009, 20.30 Uhr, Kollegienkirche

Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor, Wiener Philharmoniker, Dirigent: Riccardo Muti; Michael Schade (Tenor)
Edgard Varèse, Franz Liszt
13. August 2009, 21 Uhr; 15. und 16. August 2009,
11 Uhr, Großes Festspielhaus

ensemble recherche, Dirigent: Peter Rundel
Pascal Dusapin, Gérard Grisey
15. August 2009, 22 Uhr, Große Universitätsaula

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