Bild: Hermann NitschBild: Peter Jan Marthé

Die Wiederkehr der Magie der atmenden Klänge

Peter Jan Marthé: exzessiver Bruckner-Dirigent und Klangmagier.
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Peter Jan Marthé, Chef des 1994 von Sir Yehudi Menuhin gegründeten European Philharmonic Orchestra, streitbarer Bruckner-Dirigent und Meisterschüler Sergiu Celibidaches, meldet sich nach einer selbst verordneten „Phase des geistigen Atemholens“ mit einem Paukenschlag ins internationale Musikgeschehen zurück.
Marthé, der nicht nur für enormes Aufsehen und Schlagzeilen mit seinen aufwühlenden „Bruckner Reloaded“-Einspielungen der Symphonien Nr. III, V und IX sorgte (als CDs bei Preiser Records, Wien, erschienen), sondern mit seiner Vollendung der unvollendeten Symphonie Nr. IX von Anton Bruckner die Musikwelt gespalten hat („Geniestreich oder Sakrileg?“, fragte Die Welt), lässt nun die Fachwelt mit der angekündigten Welturaufführung der monumentalen Ägyptischen Symphonie von Gesamtkünstler Hermann Nitsch erneut aufhorchen.
Wie kommt ein beinahe ausschließlich auf Anton Bruckner eingeschworener Dirigent wie Peter Jan Marthé dazu, sich ausgerechnet einem Künstler zu widmen, der mit seinem skandalumwitterten Orgien-Mysterien-Theater-Spektakel auch heute noch die Gesellschaft zu polarisieren vermag wie kaum ein anderer Künstler der Gegenwart?
„Nicht nur unsere westliche Gesellschaft, sondern auch unser gesamter Kunstbetrieb als Spiegel ebendieser Gesellschaft drohen immer stärker in eine Harmlosigkeit und Verlogenheit abzudriften, die mir Angst macht. Solche Entwicklungen brauchen ganz einfach einen starken Gegenpol. Es war wirklich die Vorsehung, die Nitsch und mich über Bruckner zusammengeführt hat. Wir haben ungeheure Gemeinsamkeiten entdeckt – und daraus ist dann eben Die Ägyptische hervorgegangen. Und je mehr ich mich gerade in die Partitur dieser Ägyptischen vertiefe, desto fester bin ich davon überzeugt, dass hier von Nitsch das Tor zu einer im Westen vielfach unbekannten ‚Musik der pulsierenden Energiefelder‘ geöffnet wird, die in ihrer elementaren Archaik wie ein Meteor einschlagen wird …“
Während Hermann Nitsch sich sein gigantisches Klanguniversum durch unentwegtes Experimentieren erschloss, erhielt Peter Jan Marthé seine Initiation in die Geheimnisse der Musik in Indien, zu Füßen eines großen Meisters, Ustad Ameer Mohamad Khan. „Sich in Indien der Musik zu verschreiben heißt, täglich um vier Uhr Früh damit zu beginnen, einen einzigen Ton eine Dreiviertelstunde zu singen. Monatelang. Entweder du wirst dabei verrückt, oder du machst einen gewaltigen inneren Quantensprung. Seitdem kann ich nicht mehr das Geringste mit dem westlichen Musikbetrieb anfangen, der großteils nur noch ‚Salonkunst‘ hervorzubringen vermag. Deshalb sehe ich ja auch gerade in der Musik von Hermann Nitsch einen äußerst zukunftsträchtigen Gegenpol zur gegenwärtigen zeitgenössischen Musik, die generell geradezu panische Angst vor Größe, Pathos, Inbrunst, Leidenschaft und Sinnlichkeit zu haben scheint und deshalb lieber in unverbindlichen, intellektuell musikalischen Glasperlenspielen das Heil sucht.“
Aber schon Richard Wagner – exzessiver Gesamtkünstler wie Hermann Nitsch – wie auch Anton Bruckner (beiden musikalischen Giganten ist Nitsch bekanntlich in besonderer Weise verpflichtet) und später auch der französische Klangmystiker Olivier Messiaen haben dieser den gegenwärtigen Kulturbetrieb prägenden Art des Musikmachens eine klare Absage erteilt.
Andererseits hat sich die „Alte Musik“-Bewegung mit ihrem „Originalinstrumentenwahn“ in eine künstlich hochstilisierte und oftmals nur hohl tönende Affekthysterie verstiegen, die meilenweit davon entfernt ist, die Seele oder das Herz zu berühren.
„Musik muss auch im 21. Jahrhundert erschüttern und bewegen. Wir – Interpreten und Komponisten – müssen wieder zurück zu den Wurzeln, zurück zur Erde und damit zum Leben. Das Neue an der Musik von Hermann Nitsch ist, Klänge als lebendige Wesenheiten zu verstehen, zu respektieren und zu behandeln – im Gegensatz zu unserer westlichen Umgangsart mit Tönen, wo Töne nichts weiter sind als willfährige Puzzlesteine für Akkordgebilde, Tonleitern, Skalen oder serielle Reihen. So sperren wir Töne wie Tiger in die Käfige unserer musikalischen Systeme. Aber Töne und Klänge sind wesentlich mehr als nur x-beliebig zu verwendende Bausteine. Entsprechend lang gehaltene Töne, Klänge, Akkorde beginnen zu atmen, sie entwickeln ein Eigenleben, sie werden zu Schwingungsqualitäten, die einen Zeitraum ausfüllen und so jeweils unterschiedliche Bewusstseinszustände im Hörer hervorzurufen vermögen – mein Gott, wie meilenweit gerade unser gegenwärtiger Musikbetrieb von einem derartigen Wissen über Musik entfernt ist, habe ich selbst erst an mir erfahren, als mir in Mexiko und Indien von wirklichen Meistern der Klänge Augen und Ohren geöffnet wurden!“
Genau hier liegt der wahre Schlüssel zum Verständnis der Musik Hermann Nitschs. Aber nicht nur der seinigen. Schon die alten Maya experimentierten mit „Tönen“ als Schwingungsqualitäten, die sich auch im Universum als unterschiedliche und höchst differenzierte, „schwingende“ Zeitqualitäten entfalten, um auf Mensch, Umwelt und den ganzen Kosmos einzuwirken.
„Gerade aus diesem Wissen heraus bedeutet die Ägyptische Hermann Nitschs für mich die vielversprechende und heiß herbeigesehnte Wiederkehr der Magie der atmenden Klänge. Ja, ich orte in seiner Musik generell ‚schamanische‘ Wurzeln. Wir können es uns heute einfach nicht mehr leisten, Musik als unverbindliches ‚Glasperlenspiel‘ zu missbrauchen. Musik, die diese Bezeichnung verdient, dient zur Hervorrufung veränderter Bewusstseinszustände, zur Erweckung ungeahnter innerer Ressourcen sowie zum ‚Öffnen des Tors zur nicht alltäglichen Welt‘. Einer der Ersten, die das erkannt haben, war übrigens Anton Bruckner, als er lakonisch feststellte: ‚Das Stigma unserer Zeit ist Schwäche. Deshalb setze ich ihr eine Musik der Stärke entgegen.‘“
Und wie kann man sich – angesichts dieser seiner Einsichten in die Geheimnisse der Magie der Klänge – die nähere künstlerische Zukunft des Klangmagiers Peter Jan Marthé vorstellen? „Ich werde in Zukunft nur noch Musik dirigieren, die diese Kriterien erfüllt. Dazu gehört für mich selbstverständlich auch weiterhin Anton Bruckner – und in ganz besonderer Weise natürlich Hermann Nitsch. Als Komponist, der ich ja auch bin, werde ich mit allen mir zu Gebote stehenden Mitteln versuchen, eine Musik zu schreiben, die der ‚Magie der atmenden Klänge‘ genügend Raum schafft.“

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