In diesem Jahr gibt es die seltene Gelegenheit, Rosas danst Rosas zu sehen, in dem die belgische Choreografin Anne Teresa de Keersmaeker die Unmöglichkeit von Balance und Harmonie in einer extrem emotionalisierten Atmosphäre vertanzt. Rosas danst Rosas gilt als eines der bedeutendsten Stücke der Tanzgeschichte der letzten 30 Jahre. Fumiyo Ikeda ist eine der vier Tänzerinnen in Keersmaekers zweitem Stück, die vor 20 Jahren als „Béjarts rebellische Töchter“ bewundert wurden. Auch Tim Etchells, Performer, Regisseur, Autor und Leiter der britischen Theaterkompanie Forced Entertainment, sah Ikeda damals in Rosas danst Rosas tanzen. Es schien ihm, als ob sie ihre eigene Bewegung im Moment der Ausführung beobachten würde, was ihn nachhaltig faszinierte.
Zwei Jahrzehnte später haben die beiden nun zusammen ein Stück erarbeitet und sind damit bei ImPulsTanz zu Gast. In einem Brief an seinen Freund Oskar Pollak schrieb Franz Kafka über das Lesen, „ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns“. Dieses Zitat war Ausgangspunkt für Tim Etchells und Fumiyo Ikeda für ihr gemeinsames Stück in pieces. Zusammen suchten sie Wege zu dem, was im inneren Meer verborgen, vergessen und versteckt sein mag. Bewegung und Tanz, geschriebener Text und improvisierte Sprache verbinden sich in in pieces zu einer fragmentierten Ausdrucksform, um die Prozesse des Vergessens und Erinnerns von Bewegungen, Erzählungen, Gefühlen und Musik zu erforschen. In der Auseinandersetzung der beiden Künstler mit dem Verborgenen, das bewegt werden will, wird „der Körper sich selbst zum Fremden, Hände vergessen, wo sie sind, Füße verlieren ihre Folge, Gesten lösen sich im Tun auf“.
Forced Entertainment prägen seit 25 Jahren die internationale experimentelle Theater- und Performanceszene mit einer unverwechselbaren, spielerischen und zugleich reflektierten Formensprache. Einflüsse postmoderner, strukturalistischer und medientheoretischer Diskurse sind ebenso sichtbar wie der britische Boulevard, angelsächsischer Slapstick und die wuchtige Tradition Shakespeare’scher Königsdramen und Kostümschlachten.
Tanzen und sprechen
Neben in pieces beschäftigen sich noch weitere Tänzer mit der Verbindung von Tanz und Text. Im vergangenen Jahr hat der österreichische Choreograf Philipp Gehmacher im Rahmen seiner Kuratierung „still moving“ im Tanzquartier das Lecture/Performance-Format „walk + talk“ konzipiert. Er selbst und die Künstler Ann Juren, Milli Bitterli und Rémy Héritier haben die im Tanzquartier entstandenen Stücke weiterentwickelt und zeigen diese beim ImPulsTanz-Festival. Für „walk + talk“ stellten sich die Künstler der Herausforderung, Bewegung und Sprache miteinander auf der Bühne zu verbinden, und reflektieren ihre eigenen kreativen Methoden. Mit der Transformation von Bewegung, Emotion und Gedanken in Sprache setzte sich die Choreografin, Tänzerin und Pädagogin Milli Bitterli auseinander. Welche Fantasien bringen den Körper in Bewegung? Welche Art von Denken und Wissen entsteht durch Bewegung oder ist überhaupt nur durch sie möglich? Bei Gehmacher selbst markiert „walk“ die Zeit, die eine Bewegung braucht, um sich auszubreiten. „talk“ steht für die Komplexität der eigenen ausgesprochenen Wahrheiten. Die in Wien lebende französische Choreografin Anne Juren hat sich mit ihrem subtilen Humor, einer charismatischen Bühnenpräsenz und Leidenschaft für analytische Arbeitsmethoden einen Namen gemacht. In ihrem Solo enthüllt sie spannende Details darüber, was ihr in der Kunst wirklich wichtig ist. Rémy Héritier hat bereits bei Mathilde Monnier, Jennifer Lacey und Gehmacher getanzt und beschäftigt sich in seiner Version von „walk + talk“ mit den äußeren Umständen seiner bisherigen Auftritte.
Made in Austria
In Österreich sind im vergangenen Jahr ganz unterschiedliche Arbeiten entstanden. Das Künstlerduo Michikazu Matsune und David Subal vertritt in seinen humorvollen und geistreichen Performance-Settings bekanntlich einen weit gefassten Tanzbegriff. One Hour Standing For lenkt den Blick auf die Bewegungen und Stillstände unserer Zeit, das rastlose Reisen und den Kollaps des Kulturellen im flüchtigen Dort- und Dagewesensein. In seinem Solo Menschen im Wahn hat der österreichische Choreograf Georg Blaschke mit Material des Ausdruckstänzers Andrei Jerschik gearbeitet und spielt geschickt mit den Formaten Rekonstruktion und Dokumentation, Geschichtlichkeit und Gegenwart. Zu den Highlights des Festivals zählt die neue Produktion des Goldener-Löwe-Preisträgers Chris Haring, der zusammen mit den Tänzern des chinesischen Jin Xing Dance Theatre ein Performance-Set zum Thema Transgression erarbeitet hat, in dem Geschlechterrollen und gesellschaftliche Reglements am Körper manifest werden.
Kalte Wut
Fast ein Jahr ist es her, seit „die Krise“ ausgerufen wurde. Die fortschreitende Demaskierung politischer und wirtschaftlicher Machtgefüge mag der Motor dafür sein, dass gerade die Stücke mit politischem Impetus wütender geworden sind.
Über den belgischen Choreografen Jan Fabre, der mit seiner Kompanie Troubleyn in Orgy of Tolerance das menschliche Wesen, frei nach Herbert Marcuse, als „kaufendes Tier“ zeigt, wurde im letzten Heft berichtet. Neun Musiker, Schauspieler und Tänzer folgen einem bitterbösen surrealen Plot über eine Welt der Exzesse.
Ann Liv Young ist eine der Künstlerinnen, die von [8:tension]-Kuratorin Christa Spatt für das Festival entdeckt wurden. Dieses Jahr nimmt sich die kontrovers diskutierte Choreografin des ersten Präsidenten der Vereinigten Staaten, George Washington, als eines Platzhalters für Männer an den Schaltstellen der Macht an, um ihre Sicht auf die problematische Geschichte und Gegenwart des Landes zu erzählen. The Bagwell in me ist so narrativ wie keine andere von Youngs Arbeiten; Sex und Gewalt sind die Zutaten für das furiose Stück. Schon bei Snow White, das Young 2007 nach Wien brachte, gab es eine pornografische Szene, die wegen der Perspektive nicht von jedem Zuschauer als solche wahrgenommen wurde. Diesmal sorgt Ann Liv Young mit einer Videoprojektion dafür, dass keine Zweifel aufkommen können. Bei Ann Liv Young scheiden sich die Geister: Ob man ihre schrillen Werke zu laut und plakativ finden mag oder gerade diese Ungeschöntheit als angemessene Form befindet, auf unsere Welt, in der es ebenfalls nicht besonders zimperlich zugeht, zu referieren: Unberührt hinterlässt einen die New Yorkerin bestimmt nicht.
Von einer spielerischen, jedoch nicht weniger prekären Form der politischen Botschaft kann man bei Davis Freeman und seiner Kompanie Random Scream sprechen. In Investment untersucht Freeman die Zusammenhänge zwischen Politik, Kultur und Konsumismus aus der Perspektive des Investors. Dabei lädt er sein Publikum zu einem Spiel ein, in dem es die eigenen Wertvorstellungen und das eigene ethische Empfinden in Zeiten der Finanzkrise unter die Lupe nehmen kann. Auch in What you need to know arbeitet Freeman mit seiner Methode, das Publikum zur persönlichen Interaktion mit dem Performer einzuladen. Als Experte für Schusswaffen klärt er seine Zuschauer über deren Funktionsweise und den Einsatz von Gewalt unter ungünstigen Umständen auf. What you need to know fordert die Bereitschaft, bis zum Äußersten zu gehen, heraus und entwickelt eine verstörende Dynamik.
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