Die „Heimaten“ des Nikolaus Harnoncourt
Mit der Produktion der Gershwin-Oper Porgy and Bess hat Nikolaus Harnoncourt in der styriarte 2009 einen unerwarteten Ausflug in das Amerika des 20. Jahrhunderts unternommen. 2010 kehrt er bei der styriarte wieder zurück zu seinen zentralen Musikorten und wendet sich, dem Festivalthema entsprechend, der „österreichischen“ Heimat und ihren Komponisten zu. Wie sehr Österreich mit der tschechischen Musik verbunden ist, zeigen nicht nur die geschichtlichen Wurzeln der Donaumonarchie, sondern auch eine Bemerkung Harnoncourts. In einem Interview erzählte er, dass in den 60er-Jahren fast die Hälfte der Musiker der Wiener Symphoniker – bei denen er zu jener Zeit noch spielte – aus der damaligen Tschechoslowakei stammte und im Orchester bei den Konzertreisen nach Prag ab der Grenze einfach Tschechisch gesprochen wurde. „Smetana malt mit seinem Zyklus liebevoll und zugleich schonungslos sein Land“, sagt Nikolaus Harnoncourt über Má vlast. Mit rein musikalischen Mitteln beschreibt der Böhme nicht nur die opulente Landschaft, sondern auch die politischen und sozialen Spannungen seiner Heimat. Ein würdiger Start also für die styriarte 2010, wenn das Chamber Orchestra of Europe unter Nikolaus Harnoncourt in der Helmut-List-Halle aufspielen wird: Mein Vaterland (25., 26. und 27. Juni).
Dieses Jahr musiziert Nikolaus Harnoncourt bei der styriarte mit seinem Concentus Musicus Wien Joseph Haydns Oratorium Die Schöpfung (2., 3. und 5. Juli). Dorothea Röschmann, Werner Güra und Ruben Drole übernehmen die Solopartien. Der Arnold Schoenberg Chor trägt die Aufführung mit seinem bekannt strahlenden Chorklang.
In den beiden traditionellen Kirchenkonzerten in Stainz setzt Nikolaus Harnoncourt heuer Wolfgang Amadeus Mozarts große Messe in c-Moll an und greift bei den Solistinnen auf sein Idomeneo-Traumpaar aus 2008 zurück: Julia Kleiter und Marie-Claude Chappuis. Dazu gesellen sich Herbert Lippert, Ruben Drole, der Concentus Musicus und wieder der Arnold Schoenberg Chor: (Große Messe, 10. und 11. Juli).
Fux-Schwerpunkt
Dem komponierenden Jahresregenten aus der Steiermark, dem großen, bisher immer zu wenig gewürdigten Barockmeister Johann Joseph Fux, widmet die styriarte einen üppigen Schwerpunkt. Von einer musikalischen Vollmondwanderung in Fux’ Heimatgemeinden (26. Juni) über Fux’sche Musik in zwei Kammermusik- beziehungsweise Barockprogrammen (am 27. Juni im Schloss Eggenberg mit dem Zebra-Trio und am 17. Juli Lorenz Duftschmids Armonico Tributo Austria) reicht der Bogen bis zu einer Fux-dominierten „Kleinen Nachtmusik“ am 19. Juli im Stefaniensaal. Für diesen ganz und gar nicht schläfrigen Barockabend importiert die styriarte die belgischen Spezialisten des Barockorchesters B’Rock. Im Burggarten, im Dom, in der alten Universität und an anderen Orten der Grazer Stadtkrone wird am 9. Juli ein musikalisches „Fest für Fux“ mit einem großen, abschließenden Feuerwerk stattfinden.
Zentrum der Fux-Exegese bei der styriarte aber wird dessen „Componimento da camera per musica“ Orfeo ed Euridice (22. und 24. Juli) in der Helmut-List-Halle sein. Die halb szenische Produktion der styriarte-Oper 2010 liegt in den kundigen Händen des Festivalstammgasts Jordi Savall und seiner Orchestermitstreiter von Le Concert des Nations. Die Titelrolle des Orfeo gestaltet der Countertenor Pascal Bertin. Als Chor fungiert wieder der schon mehrfach opernerprobte Arnold Schoenberg Chor.
Quer durch die Donaumonarchie
Das Wiener Urgestein René Clemencic bringt mit seinem Consort die Musiken dreier Habsburgerregenten im Mausoleum Ferdinands II. zum Klingen („Musik der Kaiser“, 3. Juli). Stilsicher und ungeheuer fein abgestimmt wird ebendort das im Vorjahr bei der styriarte bejubelte Ensemble Cinquecento die polyfone Klangfülle der Renaissancemusiken, entstanden an den habsburgischen Hofkapellen, verströmen lassen („A.E.I.O.U.“, 8. Juli). Jenem in Graz begraben liegenden Ferdinand II. widmete Claudio Monteverdi ursprünglich sein 8. Madrigalbuch. Dieses wird zur Grundlage für ein vom Bühnenenergiebündel Adrián Schvarzstein zum Finale der styriarte 2010 inszeniertes Spektakel im Grazer Landhaushof („O gran Fernando“, 25. Juli).
Die k. u. k. Monarchie und ihre Völker sind Grundlage für eine Reihe von weiteren Konzertthemen. Am 11. Juli sind das Prager Zemlinsky-Quartett und zwei weitere tschechische Musikerkollegen zu Gast für eine intensive Dvorˇák-Streicher-Matinee in Eggenberg („Von böhmischen Geigen“), und das junge Prager Trio Concertino bringt am 20. Juli Trios von Smetana und Dvorˇák in einem „Einfach böhmisch“-Konzert zusammen. „Wien trifft Balkan“ heißt es am 29. Juni bei „Neues vom Rennweg“, an dem laut Fürst Metternich der Balkan seinen Anfang nahm/nimmt. Die Balkanfiebermusik des Sandy Lopicic Orkestar wird abwechselnd mit der Walzerseligkeit von Willy Büchlers Salonensemble Alt-Wien die Stimmung in der Helmut-List-Halle zum Kochen bringen. Weiter donauabwärts geht es mit Pierre-Laurent Aimards Klavier- und Schlagwerkprojekt „Bartók an der Donau“ am 5. Juli, bei dem ihm Tamara Stefanovich am Klavier Gesellschaft leistet. Und „Echt ungarisch“ geht es zu, wenn Andreas Bach am 30. Juni Bartók’sche Klavierwerke den ursprünglichen ungarischen Volksmusikquellen des Ensembles Muzsikás gegenüberstellt.
Lesungen und Musik
Zweimal lässt die styriarte 2010 auch ihre großen Dichter zu Wort kommen. Paula von Preradovic´, der kroatischstämmigen Dichterin der österreichischen Bundeshymne, ist der Abend „Heimat bist du“
am 27. Juni gewidmet (Lesung: Elisabeth Orth, Musik: Grete Zieritz, gespielt von Lisa Smirnova).
Das in Österreich oft ungeliebte Dichtergenie Thomas Bernhard darf tags darauf bei Meine Preise sein Gift auf die Heimat versprühen (28. Juni, Lesung: Peter Simonischek, Musik: Franz Bartolomey und Cornelia Hermann).
Die Heimat und ihre Künstler
Wie aber ging das „viel gerühmte Österreich“ mit seinen großen Söhnen um – mit Schubert, der von der Musik nicht leben konnte („Schubertiade“ 2. Juli, Bibiana Nwobilo, vienna clarinet connection; 18. Juli Stefania Neonato am Hammerflügel), mit Hugo Wolf, den man als Spinner diffamierte (sein Italienisches Liederbuch singen Julia Kleiter und Christoph Prégardien am 6. Juli), oder mit Anton Bruckner, der in Wien ein Außenseiter blieb? Des Oberösterreichers grandiose Chormotetten bringt der Arnold Schoenberg Chor unter seinem Leiter Erwin Ortner am 12. Juli in die Herz-Jesu-Kirche („Locus iste“).
Schönbergs Musik und seine Wurzeln, die bei Mahler und Strauß liegen, stellt Christian Muthspiel zum recreation-Orchester-Konzert „Wiener ohne Walzer“ am 1. Juli zusammen. „Österreichische Reisen“ am 15. Juli führen mit Krˇeneks Reisebuch aus den österreichischen Alpen, mit Brahms’ Festouvertüre und der Vierten von Franz Schmidt mitten ins österreichische Herz. Reiseleiter ist wiederum recreation-Großes Orchester Graz, hier gemeinsam mit Wolfgang Holzmair und unter sei-nem vormaligen Chefdirigenten Andrés Orozco-Estrada. Und noch einmal nimmt die styriarte diesen Faden auf, wenn bei ihrer Landpartie im Freilichtmuseum Stübing Krˇeneks Reisetagebuch sein Echo in echter Volksmusik findet („Heimat zu entdecken“ am 17. Juli). Die Hits Robert Stolz’ schließlich erfahren durch Berndt Luef und sein Jazz-Quintett eine Transformation hin zur Aktualität („Stolz goes Jazz“, 11. Juli). Dieses Konzert sowie vier weitere sind dieses Jahr programmatisch konsequent im Grazer Heimatsaal angesiedelt.
Noch mehr
Noch viele weitere Facetten ihres Themas 2010 hält die styriarte bereit. Ein virtuoses Vokalquartett um Werner Güra singt am 7. Juli Brahms’ Liebesliederwalzer, Beethoven ist Markus Schirmers und Danjulo Ishizakas Cello-Klavier-Abend am 16. Juli gewidmet, Pierre-Laurent Aimard pilgert mit Liszt in die Schweiz (4. Juli), und Vladimir Ivanoff führt sein türkisches Ensemble Sarband am 16. Juli in den „Goldenen Apfel“, das Wien des Jahres 1665.
Informationen
25. Juni bis 25. Juli 2010
styriarte, Sackstraße 17, A-8010 Graz
Tel. (+43-316) 82 50 00
[email protected]
www.styriarte.com
www.graztourismus.at
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