In einer Zeit, da die öffentlichen Mittel der Kunstfinanzierung immer mehr gekürzt, ja für einzelne Institutionen ganz gestrichen werden, ist nicht nur der Staat gefordert, die „zeitgenössische Kunst, ihre geistigen Wandlungen und ihre Vielfalt im Geiste von Freiheit und Toleranz“ zu fördern. Immer mehr autonome Strukturen, auch Ableger der großen öffentlichen oder privaten Institutionen, kommen der Aufgabe nach.
Die Situation der Nachwuchsautoren für das Theater in Österreich hat in den letzten Jahren allen drohenden oder reellen Streichungen zum Trotz eine substanzielle Verbesserung der Subventionierung – sei es im finanziellen oder ideellen Sinn – erfahren. Viele der jungen Dramatiker haben ihr Handwerk in der Grazer Dramawerkstatt uniT gelernt, die schon beachtliche Erfolge verzeichnen konnte. Geschützte Werkstätten wie text an text des Schauspielhauses Wien, die Werkstatttage am Kasino im Burgtheater oder die Wiener Wortstaetten bieten den jungen Talenten die Chance, sich im Blickfeld und im Dialog mit anderen Auto-
ren zu messen, zu entwickeln und zu befruchten, avantgardistische Foren wie brut bieten willkommene Experimentierfelder außerhalb der vorgefertigten Produktionsrahmen und fixen Strukturen. Viele der Dramatikertalente haben die dreißig noch kaum überschritten und bereits eine Vielzahl an Literaturpreisen und Stipendien erhalten, die das ökonomische Überleben, wenn schon nicht sichern, so doch um einiges erleichtern.
Stückewettbewerbe, Autorenlesungen und Theaterwerkstätten sind eine Chance, aber auch die Gefahr, vorzeitig auf eine Rolle festgelegt zu werden. Welche ästhetischen, welche ideologischen Positionen nehmen sie ein? Sind sie revolutionär oder konservativ? Gibt es durchgängige Leitmotive? Was bedeutet Theater heute, welche substanziellen Ansätze oder Entwürfe sind noch möglich, jetzt, da alles schon gesagt, vieles schon geschrieben, einiges bereits wiederholt worden ist?
Was und worüber kann man schreiben, was soll man sagen, wie darf man erzählen? Als gemeinsamer Nenner der Stücke kristallisieren sich drei immer wiederkehrende Aspekte heraus: die Schatten der Vergangenheit, die Suche nach Identität und die Schwierigkeit, sich in einer uniformisierten Gesellschaft und globalisierten Welt zu orientieren.
Ewald Palmetshofer, Gerhild Steinbuch, Volker Schmidt und Johannes Schrettle repräsentieren als mithin prominenteste Vertreter diese neue Autorengeneration im Aufbruch zwischen Anpassung und Avantgarde.
Gerhild Steinbuch
Was sie am Theater in Atem hält, ist die Entwicklungsvielfalt der Möglichkeiten, „weil es nie fertig ist“. Als Kind schon fiel Gerhild Steinbuch durch sowohl inhaltlich wie sprachlich außergewöhnliche Texte auf, besuchte bereits mit elf Jah-
ren die Literaturjugendwerkstatt. Danach ging es in die Grazer Dramatikerwerkstätte uniT für szenisches Schreiben, wo etwa Thomas Ostermeier und Marius von Mayenburg unterrichteten; sie war gerade mal 19, da hatte sie schon angefangen, ein eigenes Stück zu entwickeln, und endlich Theaterluft geschnuppert. Ihr erstes Stück, kopftot, eine Inzestgeschichte zwischen Vater und Tochter mit einer sehr lyrischen Sprache, verschaffte ihr bereits mit 20 den Durchbruch. Sie gewann da-mit den Stückewettbewerb der Berliner Schaubühne und wurde bald darauf von Rowohlt unter Vertrag genommen. Ihr viertes Stück, Verschwinden oder die Nacht wird abgeschafft, eine Referenz auf den klassischen Antigone-Mythos, war ein Auftragswerk des steirischen herbsts. Dieses Jahr erhielt sie für ihr Stück Menschen in Kindergrößen, das aus Motiven des klassischen Märchens die tragischen Ereignisse der Gegenwart beleuchtet, den mit 3000 Euro dotierten Autorenpreis der Deutsch-Französischen Tage in Karlsruhe. Ausschlaggebende Kriterien waren für die Jury neben der Theatralität des Manuskripts seine Fähigkeit, „die Feuerprobe der Bühne und der Inszenierung zu bestehen“, und ein Stück zu prämieren, „das Theater als Institution befragt und reflektiert“.
Die junge, bereits vielfach ausgezeichnete Dramatikerin las schon als Kind viel – „Ich habe sehr früh damit begonnen, wollte schon immer etwas mit Sprache machen“ –, zunächst Prosa, danach Strindberg, Büchner; weiteres Dramafutter waren Martin Heckmans, Sarah Kane und, natürlich, Elfriede Jelinek: „Was sie macht, hat Konsequenz und Geradlinigkeit.“ Strindberg fühle sich, weil nicht so vorhersehbar, „dunkel, fast feucht an – es lebt“; Rainald Goetz beeindruckt sie durch eine „so starke Sprache, dass es fast schon die Form kaputtreißt“, und last, but not least Werner Schwab. Ihre eigene Sprache ist ebenso eigenständig: poetisch, eindringlich und gleichzeitig experimentell und kein Satz ohne Bedeutung.
In der Spielsaison 2008/09 ist die 1983 in Mödling geborene Gerhild Steinbuch Hausautorin am Wiener Schauspielhaus, wo sie ihre innovative Sprachgewalt zu Papier und ans Publikum bringen kann. Sie habe sich Leute gesucht, mit denen sie arbeiten will und kann, „aber es gab damals in Österreich keine Möglichkeiten, das zu vertiefen“. Jetzt kann sie das am Schauspielhaus in Wien „gemeinsam mit den Schauspielern weiterentwickeln, was etwa wie bei Verschwinden oder die Nacht wird abgeschafft toll geklappt hat. Man kann sich gegenseitig immer wieder beeinflussen und Dinge kritisieren und verbessern.“ Im Zuge ihrer Hausautorenschaft wird ihr neuestes Stück, Herr mit Sonnenbrille, aufgeführt.
Das nunmehrige Jusstudium fungiert als Exitstrategie: „Mit dem Auftragsgeld für mein erstes Stück wäre ich ein halbes Jahr ausgekommen.“ Die Situation hat sich grundlegend gewandelt: Die erst 25-jährige Steinbuch ist nunmehr eine international beachtete Dramatikerin, ihre Stücke sind gefragt: „Bis jetzt geht’s ganz gut, dass die immer jemanden haben möchten.“ Und ihr Verlag – Rowohlt in Hamburg – kümmere sich „sehr gut“ um sie. Wie schätzt sie die Situation des zeitgenössischen Theaters, die Unterstützung junger Autorenkollegen ein? „Gott sei Dank gibt es nun seit einigen Jahren alternative Werkstätten wie das brut oder auch Institutionen wie das Schauspielhaus, die junges Theater fördern, was für die Szene wichtig ist, damit sie lebendig bleibt; das sind Werkstätten, die auf ganz unterschiedliche Weise auf junge Leute setzen – es gibt sehr spannende Konstellationen.“
Ist ihre Präferenz Prosa oder Theater? Sie will beides: Das eine bereichere das andere; „es befruchtet sich gegenseitig“. Mit ihrer Sprache macht sie die innersten Vorgänge ihrer Figuren sicht- und erfahrbar: „Die Sprache ist immer zuerst da“, danach entstehe dann der „Film“ im Kopf, „und dem schreibe ich hinterher“. Die Themen, die sie als eines der pronociertesten Talente der jüngsten Autorengeneration beschäftigen, treten „in meinen Stücken in Variationen immer wieder auf – aber an einem solchen Thema arbeitet man sich ja auch ab“. Jenes der Macht etwa: „Die meisten Beziehungen funktionieren ja so, dass immer einer der beiden über mehr Macht verfügt.“ Steinbuch glaubt nicht an die gelebte gleichberechtigte Beziehung auf Dauer, generell nicht und auch nicht an jene zwischen Mann und Frau: „Weil immer einer der Stärkere ist und diese Macht ausnutzt.“
Wie findet sie ihre Themen? Gerhild Steinbuch sammelt: Gehörtes, Gesehenes, Beobachtetes, Erzähltes, Zufallsbegebenheiten, „das alles stopfe ich in meinen persönlichen Zettelkasten“. Eine Überschneidung beginnt zu existieren. „Manchmal sieht man auch etwas und kriegt eine Wut.“ Die Themenführung mündet in die Ideenentwicklung: „Das ergibt sich von Stück zu Stück und passiert Schritt für Schritt, sodass es, hoffentlich, immer mehr in die Tiefe und Breite geht.“
„Ich mag Theater, das sich nicht nur aus persönlichen Erfahrungen speist, sondern aus dem persönlichen an einen größeren Kosmos anknüpft.“ Problematisch findet sie dagegen, wenn „nur das Ich verhandelt wird“, sowie „klein gehaltene Frauenrollen“. Sie selbst versuche dezidiert, das Schwarzweiß zu vermeiden, die reine „Täter-Opfer“-Zeichnung sei eine zu einseitige Sichtweise. „Wenn man das konsequent macht, erzählt man etwas anderes – das ist mein Weg.“ Wenn man versuche, etwas abzubilden, dann sollte man auch die Kehrseiten zeigen, die Realität eben so, wie sie ist: „Ich finde, dass man die Schattenseiten nicht ohne das Schöne zeigen kann, eine Person nicht ohne ihre Sehnsucht nach Liebe und ihre Liebesfähigkeit; nicht nur den gebrochenen Menschen, sondern den Weg davor. Da, wo kein Kampf ist, laufen sich für mich die Figuren tot.“
Steinbuchs größtes Schreckgespenst aber ist wohl der Kitsch, „billige positive Emotionalität, ohne den Dingen auf den Grund zu gehen. Dort, wo man es sich einfach macht, entstehen Dinge, die einen nicht angreifen, nicht tangieren. Auch Schönes kann wehtun.“ Denn Theater soll vor allem eines: angreifen, anpacken. Gerhild Steinbuch arbeitet daran.
Ewald Palmetshofer
Texte mit Körpern vernähen, das ist die Antriebsfeder Ewald Palmetshofers, einer der großen Hoffnungen des österreichischen Gegenwartstheaters und des Hausautors am Wiener Schauspielhaus in der vergangenen Spielsaison 2007/08; das Begehren nach einer anderen Existenz der Rahmen, in denen seine Figuren verortet sind; der Wille einer Generation, an etwas teilzunehmen, mitzuwirken, es zu gestalten. Aber es stellt sich, wie etwa in hamlet ist tot. keine schwerkraft oder in wohnen. unter glas das Bewusstsein ein, „dass sie zu spät dran sind, um noch etwas zu verändern; eine Generation, die erkennen muss, dass hier nichts mehr zu holen, nicht mehr viel zu erwarten ist“, sinniert der Oberösterreicher nachdenklich. Der 30-Jährige verwandelt Philosophie in Theater, seine Stücke sind weder eindimensional zu deuten noch einfach zugänglich. Was ist aber nun Ursache, Antrieb, Motiv, Handlungsgrund, Grund seiner Figuren? In wohnen. unter glas ziehen die drei Protagonisten, die einst eine WG gebildet haben, die Bilanz ihrer verlustig gegangenen Ideale von einst. Ewald Palmetshofer verwahrt sich gegen den einseitigen Blickwinkel eines resignierten Fatalismus. „Es ist nicht nur eine Stagnation. Was man an den Figuren beziehungsweise Texten sieht, ist, dass es ein Begehren, einen Willen, durchaus einen Antrieb gibt. Zum Problem wird allerdings das Objekt dieses Wollens.“
Für einen präziseren Umriss des Gegenwärtigen sammelt Palmetshofer, dessen Fantasie sich an den theoretischen Exkursen der Philosophie und Theologie nährt – er nennt als Vorbild Jacques Lacan, den Philosophen des Begehrens als Mangel –, „Elemente, die für eine Befragung der Gegenwart relevant scheinen, die von Fraglichkeiten ausgehen“, die er thematisieren will. Dies zeige sich nicht nur im Sprechen der Figuren, sondern „in Konstellationen zwischen ihnen, der Antinomie von Lebenskonzepten“. Palmetshofers Konzeption des Theaters heute: Es gehe um Brüchigkeit, „aber nicht darum, Lösungen abendfüllend zu thematisieren; ich glaube, dass man die Befragung intensivieren muss“. Theater setzt für ihn einen Kontrapunkt zur uniformisierten Welt der Geschäfte da draußen, wo alles gnadenlos glattlaufen muss.
Der Text aber, das Denken benötigen „das Sprechen und die Körper von Schauspielern“. Weitere Ebenen erschließen sich dann wie von selbst. Seine Sprache – ein ständiges Oszillieren zwischen zwei Polen, zwei Tendenzen. „Zwischen Überschuss und Mangel. Einerseits rast das Denken, überbordendes Material, viel zu schnell für das Sprechen, eine Denkbewegung schneller als der Mund. Andererseits beginnen sie immer wieder neu, fangen noch vor dem Ende einer Sinneinheit wieder von vorn an.“ Man sucht das Innehalten, „um das Denken in seiner Rastlosigkeit kurz zu sich kommen zu lassen“. Wichtig seien aber „die Pole selber und nicht die Skala dazwischen“ – das Stück beziehe an diesen Seiten Stellung. Der Autor glaubt nicht mehr an die alte Form des Dialogs: Der Mensch „dieses jungen Jahrhunderts ist ein Mensch immer auf der Schwelle“. Man müsse die Arbeit leisten, aufeinander zuzugehen, für Palmetshofer ein Wagnis, eine fast unmögliche Begegnung – bevor sich der Sinn herstelle, merke man schon, dass man absinke und abwinke. „Wie der Frosch im Milchglas, der sich abstrampelt – aber keine Butter wird erzeugt.“
Sein Parcours hat sich bereits früh abgezeichnet: „Ich habe anfangs Kurzgeschichten geschrieben und gern selber vorgelesen und gemerkt, dass es eigentlich den Akt des Sprechens braucht, eine Stimme, einen Körper: Die Rezeption im Theater zwingt mich, diese am Körper festzumachen – im Vergleich zur Prosa als konzentriertem geistigem Vollzug, die das auf diese Weise nicht benötigt.“
Das Spannende am Theater sei, „dass es möglich ist, Sprechen und Körper-
lichkeit als Akt zu thematisieren“. Sei-
ne Hausautorenschaft in der Spielsaison 2007/08 am Wiener Schauspielhaus war eine wichtige Erfahrung: das Einbezogensein in den Probenprozess, die Arbeit mit der Regisseurin Felicitas Brucker – „Sie hat erfinden können, dass die Schauspieler wissen, wie man diesen Text nimmt. Sonst kommt man für gewöhnlich nur bei den Endproben herein. Das ist zu spät, um noch etwas anzubieten für die szenische Fassung.“ Das sei das Spannende daran – „so nah dran zu sein und etwas anbieten zu können, gegenseitig einwirken und eingreifen zu können; mit größerer Selbstverständlichkeit am Text zu arbeiten und sich gleichzeitig gegenseitig freizulassen, unterschiedliche Arbeitsfelder zu sehen, das Eingebundensein in einem Haus und die Nähe zum Haus zu erleben – um die Arbeit da hinzutreiben, wo man allein vielleicht gar nicht hingekommen wäre“. Am Schauspielhaus nimmt Ewald Palmetshofer als Gastdramaturg auch an Dramaturgiesitzungen teil – aufregend hier die Möglichkeit, „konzeptuell eine Stimme zu haben“. Aber: „Ich kann naturgemäß die Autorenposition nicht ausklammern.“
Zu seiner eigenen Anfangszeit „wäre es gar nicht denkbar gewesen“, überhaupt einen Fuß in eine der großen Theaterpforten zu bekommen. Da war das Gefühl vorherrschend, dass es zu schwierig sei, sich überhaupt in einer der vorhandenen, übermächtigen Institutionen zu positionieren, das Gefühl, „nicht zu genügen“. Damals habe es noch nicht viele Möglichkeiten gegeben, sich zu erproben und zu entfalten. Das sei heute anders. 1998 kam Palmetshofer im Zuge seines Studiums nach Wien – eine Entwicklung fängt mit dem Schreiben an: „Es hat schon so eine Faszination über das Spielen, eine Sehnsucht danach gegeben, eine Affinität war selbstverständlich da, ich habe quer durch die Bank viel gelesen“; im ländlichen Bereich, wo er aufgewachsen ist, war Theater jedoch kaum „sozial kodiert“. Sein „Trigger“-Erlebnis, eine Produktion des Festivals der Regionen, brachte ihn wiederum von Wien, wo er schon ansässig war, wieder aufs Land, nur um die Aufführung zu sehen, die ihn so beeindruckte. „Das heißt aber nicht, dass der erste Anstoß, ein Stück zu schreiben, fiel und dass dann der Ablauf linear war.“ Es war immer wieder mit Abweichungen verbunden. „Ich habe immer wieder von vorn angefangen.“
Heute steigt das Interesse an seinen eher hermeneutischen Stücken stetig: Der renommierte Fischer Verlag hat den nachdenklichen Provokateur unter Vertrag genommen; Palmetshofer denke klug und fordere das Theater auf eigene Weise heraus, betonte Andreas Beck die Innovationskraft seines Protegés, als er ihn für seine erste Saison am Schauspielhaus zum Hausautor ernannte.
Welches ist nun seine ganz eigene Anmutung an das Theater? „Ich hätte gern, dass Theater den Finger auf die Fraglichkeiten legt und unseren gewohnten Blick auf die Wirklichkeit bewegt. Es ist die Hoffnung, dass sich die Dinge nach dem Theaterbesuch nicht mehr so leicht an ihren ursprünglichen, gewohnten Platz stellen lassen.“
Volker Schmidt
Volker Schmidt ist Autor, Regisseur, Schauspieler. „Ich war auf der Suche nach Stücken, die ich inszenieren wollte, und das, was ich gefunden habe, hat mich nicht befriedigt; da habe ich mir gedacht: Warum nicht einfach selbst ein Stück schreiben?“ Vornehmlich Zeitgenössisches, weil „es mit unserer Zeit zu tun hat“ – sein jüngstes Stück, Mountainbiker, das in dieser Spielsaison in einer „schnellen, einfachen, starken“ Inszenierung von Alexander Charim am Wiener Schauspielhaus zu sehen ist, handelt von den Beziehungsdesastern übersättigter Wohlstandsbürger: „Um eine Wohlstandsgesellschaft geht es auf alle Fälle, aber in Relation zu den wirklichen Fragen des Menschen; die Hauptfigur Anna zerstört alles, was sie erlangt hat: Familie, gesellschaftliches Ansehen, Sicherheit. Weil sie merkt, dass ihr etwas fehlt; durch das wahl- und ziellose Zerstören versucht sie, draufzukommen, was es ist.“
„Die Schatten zerstören, um die Dinge, die dahinterliegen, freizulegen“, ist die Hauptidee, die dahintersteht und auf die er kam, „als ich die Sonntagsradfahrer in Perchtoldsdorf beobachtet habe, diese Ausrüstungsfetischisten bei ihren Ausreißversuchen aus dem bürgerlichen Speckgürtel der Stadt“. Das Stück wurde für den Heidelberger Stückemarkt nominiert, eines der bedeutendsten Foren für junge Theaterautoren. Beim Berliner Theatertreffen konnte sich der Text gegen 494 Stücke aus 30 europäischen Ländern durchsetzen.
Der gerade 30 Jahre alte Theaterautor, Regisseur und Schauspieler kann auf eine beachtliche Karriere zurückblicken. Zehn seiner Stücke wurden bereits realisiert – vom Linzer Theater Phönix bis zum Theater der Jugend in Wien. Regie führte er an den Vereinigten Bühnen Graz ebenso wie am Wiener Schauspielhaus oder in Kopenhagen. Als Schauspieler agierte er in der Josefstadt, am Landestheater Salzburg und am Volkstheater, auch im Film wie in Antels Bockerer III. Der vielseitige Theatermann hat sich auch an die Klassiker getraut. Für das Theater der Jugend erzählte er Homers Ilias nach sowie die Geschichte der Jugend von Richard III. als Ritchy 3, aus Shakespeares Sturm produzierte er ein Hip-Hop-Sprechtheater. Shakespeare – das ist einer seiner Orientierungspunkte, sagt Volker Schmidt. Von den neueren Autoren sprechen ihn Simon Stephens und bei osteuropäischen Autoren die Nähe von Tragik und Ironie an.
Zu schreiben begonnen hat der Umtriebige bald nach dem Ende seiner Schauspielausbildung am Konservatorium der Stadt Wien. Auf den ersten Erfolg musste er nicht lange warten. Bereits sein Debüt, Unter den Fischen, wurde 2003 mit dem ersten Preis für „das junge, radikale Volksstück“ des Theaters Phönix in Linz ausgezeichnet – vier junge Menschen unter der perfekt gestylten Fassade ihres Lebens auf der Suche nach Wahrhaftigkeit. Die Themen: Lebenslügen, Identitätskrisen – und Sinnfragen. Politische, kulturelle, philosophische Fragen – Theater ist für ihn ein weites gesellschaftliches Feld; vieles im Theater sei sehr eng eingegrenzt; er hingegen findet es wichtig, nicht nur Zustände abzubilden, welche die eigenen, persönlichen Lebensumstände betreffen. Er moniert scharf das Theater, das „keine Menschen und keine Schicksale mehr duldet, sondern sich selbstreferenziell damit begnügt, Kommentare zu liefern“. Für ihn selbst ist „die Sinnfrage sicher immer wieder ein Punkt, wobei ich nicht versuche, sie in meinen Stücken zu beantworten, aber zu umkreisen“: Dabei beschäftigen ihn ebenso wirtschaftspolitische Themen, „inwieweit Ethik und Kapitalismus kompatibel sind“, wie die gesellschaftlichen Deformationen, persönlichen Befindlichkeiten oder generellen Paradigmen unserer Gegenwart. Etwa der Rassismus, wovon sein Stück Schwarzweißlila, das 2007 den Berliner Preis für das beste Kindertheater erhielt, zwar auch und vordergründig handle, aber als Anhaltspunkt universalerer Tragweite: „Der Mensch will so gesehen werden, wie er ist, und nicht, wie die anderen ihn sehen – das zeigt, wie sehr wir von Bildern und durch die ganze Mediengesellschaft geprägt sind und den Blick verlieren, weil wir uns nur an Bildern orientieren“, die aber alles verfälschen, „weil sie nicht die Wahrheit abbilden, sondern selbst nur Projektionen sind“.
In Pflugversuche geht es um Gegensätze: zwischen Stadt und Land, Kunst und Natur. Wenn man sich „von allem Natürlichen verfremdet wie wir heute“, gewinne die Erkundung der Impulse, Sehnsüchte, Triebe des Menschen an Aktualität, die Frage nach der bestimmenden gesellschaftlichen Kraft. Für ihn heute unter anderem „der Kapitalismus, der Materialismus“. Sein Lebensmittelpunkt ist derzeit Berlin, wo er die Theaterszene abwechslungsreicher, inspirierender findet: „In Wien ist alles abgeschlossener, es fehlt der Mut. Ich war auf der Suche nach neuen Impulsen.“ Derzeit inszeniert er sein Stück Stormy Love inna Beatbox in Hannover neu. Er habe auf jeden Fall vor, weiterhin sein eigener Regisseur zu sein. Von einem „fremden“ Regisseur, der seine Stücke inszeniert, wünscht er sich, dieser möge mit ebenso viel Humor wie Ernsthaftigkeit an seine Figuren herangehen.
Das Theater ist für ihn der Ort, wo gesellschaftliche Phänomene verhandelt werden könnten, ein „Denklabor, wo man Fragen stellen und Leben entstehen lassen kann“. Auch zeitgenössische Stücke sollten sich „an die großen Fragen herantrauen, Inhalte auf die Bühne stellen“, sagte Schmidt in seiner Dankesrede anläss-lich der Verleihung des Nestroys für sein Schulprojekt komA – „neue Welten schaffen, Fragen stellen, die alle Menschen betreffen – und dies mit Nachhaltigkeit“.
Johannes Schrettle
Das Theater im Bahnhof Graz versteht sich als „zeitgenössisches Volkstheater zwischen Tradition und Pop“. Da fühlt sich der junge steirische Autor Johannes Schrettle, der mit dem schrägsten Ensemble Österreichs sein Stück über das vertrackte System von Arbeits- und Freizeit, Lisa D. auf Zeitausgleich, auf die Beine stellte, durchaus wohl. Zeitausgleich heiße, mit seinem Körper und seinen Ressourcen verantwortungsvoll umzugehen, ihn mit Energien aufzuladen, um – und das ist die Ironie – bei der Arbeit umso produktiver sein zu können. Mit seinem Stück Dein Projekt liebt Dich ironisiert Schrettle die beklemmenden Weiten der Beliebigkeit in einer undurchschaubar gewordenen Welt, den viel zitierten „Relativismus“ unserer heutigen Generation, in der alles ein Projekt und nichts auf Dauer ist – und man sein Leben nur noch als „unverbindliches Projekt planen kann“. Auch sein Stück wie ein leben zieht mein koffer an mir vorüber – sechs Menschen auf der Suche nach Arbeit, Wohnraum und ihrer eigenen Biografie – stellt zeitgemäße Fragen: Wie leben, wie wohnen wir heute? Gibt es so etwas wie ein Zuhause überhaupt noch? Inwieweit ist Individualität längst zum Anachronismus und Identitätssuche zum Slogan geworden?
Zum Theater ist Schrettle zufällig gekommen, über eine Kooperation mit dem Theater im Bahnhof in Graz, wo er mit dem Autorenprojekt Eigenbau an freien Projekten tüftelte. Er habe schnell gemerkt, dass seine Art des Schreibens sich besser für das Theater eigne als das Buch. Er brauche „beim Schreiben ein Gegenüber, bei dem ich merke, was passiert, und wo sich das, was ich schreibe, widerspiegelt“. Ihm liegt der Text als offene Fläche am Herzen: „Es geht darum, was sich daraus ergibt.“ Quasi eine Dynamik des Schreibens, die in der Offenheit des Dialogs entsteht; sein Text zu Dein Projekt liebt Dich wurde im Ursprung in Form einer Improvisation mit dem Regisseur und den Schauspielern entwickelt und als szenische Lesung beim steirischen herbst gezeigt – für das Schreiben für das und am Theater sei ein Gegenüber unabdingbar. „Mir ist wichtig zu wissen, was mit dem Text passiert, und gleichzeitig in einen Prozess eingebunden zu sein“, erklärt der 28-Jährige seine Arbeitsweise. Deshalb bevorzugt er das Modell eines freien, selbst organisierten Kollektivs und warnt davor, „das Schreiben als isolierte Kunstform zu transportieren“. Als Theaterautor beschäftigt ihn dabei die Frage, wie sich Text im Verhältnis zum Publikum herstellt: Schreiben funktioniert für ihn auf jeden Fall nicht nur am Schreibtisch. Auf die Förderung junger Autoren angesprochen, meint er, „es ist immer die Frage, worauf ich als Förderer abziele“; kritisch sieht er bei vielen seiner Alterskollegen einen allzu „pragmatischen Umgang mit dem Literaturbetrieb und seinen Institutionen“ und findet „das Wort Autorenpflege ziemlich perfide“. Eher, als durch das Nadelöhr der staatlichen Repräsentationstheaters zu gehen, plädiert er dafür, „die selbstständigen Kollektive zu fördern, denn um die ist es nicht so gut bestellt“.
Schrettle vertritt die Auffassung, dass es keinen „universalen Kern“ gibt. Es fehle, so seine Bestandsaufnahme, auch an Sprache, um das wiederzugeben, zu reproduzieren, was sich mehr und mehr in Bildern abspiele. Überlegungen, insbesondere die am Theater angestellten, könnten dazu führen, über die Gegenwart nachzudenken und „Kontraste sichtbar zu machen“, „eine transzendente Wahrheit“ aber scheint verloren. Auch die geradlinige Zeichnung der Figuren und eine kontinuierliche Form der Narration haben ausgedient. Wiewohl ihn diese Skepsis nicht daran hindert, Shakespeare weiterhin „super“ zu finden – was aber nicht bedeute, „dass es nur in der Vergangenheit Übersichtlichkeit und Klarheit gibt“; ein fundamentaler Ansatz seiner Arbeit besteht jedenfalls im Erkenntnisstrang, dass „Probleme, die mich jetzt beschäftigen, nur jetzt gültig und möglich sind“. Etwa die in seinem Stück Lisa D. aufgegriffene Segregation von Arbeit und Freizeit oder das, was heute unter dem Schlagwort „Politikverdrossenheit“ subsumiert wird. Boat People™ – das Label ist schön sei ursprünglich ein reines Modeprojekt gewesen. Johannes Schrettle spricht quer durch die Bank alles an und verweist dann auf jene Kategorien, von denen er überzeugt ist, „dass sich hier die größten Änderungen vollziehen“. Mit dem Künstlerkollektiv Zweite Liga für Kunst & Kultur am Grazer Theater im Bahnhof verhandelt er derzeit in formaler wie konzeptioneller Freiheit all diese Fragen.
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