Herman Melvilles 900-seitiger Roman ist ein ebenso großartiger wie rätselhafter Monolith, der Generationen von Literaturwissenschaftler*innen und in jüngerer Zeit auch Theatermacher*innen Nächte voller Inspiration und Schlaflosigkeit gekostet hat. Mal wurde in dem Wal die Schimäre einer blinden Eroberungsideologie, mal eine sich stets entziehende metaphysische Wahrheit, mal die versehrte Natur und mal eine mit zerstörerischer Wut eroberte Weiblichkeit gesehen.
Der Regisseur Lorenz Nolting macht sich mit den Schauspielstudierenden des 3. Jahrgangs der Kunstuniversität Graz ebenfalls auf die Jagd. „Das Deck der Pequod knistert elektrisch, ein fünf Meter großer Ahab schreitet in den Marianengraben und siebzig Barrel Öl schießen aus dem Rückenmark eines T-Rex in den sternenblauen Nachthimmel Minnesotas, nur um von den gierigen Lefzen raubtierartiger Ford Fiestas aufgesogen zu werden. Es ist Winter in Graz, Sommer auf dem Pazifik und Herbst im Herzen derjenigen, die das suchen, was schon einmal war. Der Maschinenraum kocht und die Harpunen sind so scharf, dass sie Fenster in andere Dimensionen schneiden könnten, wenn sie nicht auf dieses wunderschöne
Tier gerichtet wären: Moby Dick.“ (Lorenz Nolting)
Getragen von den Geschichten des industriellen Zeitalters und eigenen Texten rast das Ensemble durch Melvilles Roman, vorbei an Bitcoin-Gebirgen, explodierenden Ozeanen und einem flirtenden weißen Wal, der mit tiefer Stimme neckisch sagt: „Wer bin ich? Fangt mich – wenn ihr könnt.“ Vielleicht fragt er aber auch „Wer seid ihr?“. Und das ist in dem Zusammenhang vielleicht die viel wichtigere Frage.