Er schreibt es spielerisch, auf Bitten einer seiner zahlreichen weiblichen Bekanntschaften, ein kleiner Beweis seines Könnens, eine Wette mit sich selbst: In kürzester Zeit wollte er ein Stück in herkömmlicher „geregelter Manier“ verfassen, nicht so wild und gewagt wie sein Götz, der ein Jahr zuvor erschien. Das entstandene, von den Zeitgenossen wenig geliebte, von Goethes Freund Johann Heinrich Merck gar als „Quark“ beschimpfte Trauerspiel beruht auf einer wahren Begebenheit. Die Schwester des Schriftstellers Beaumarchais wurde in Madrid nach wiederholten Heiratsversprechungen von dem Höfling Clavijo verlassen. Goethe baut diese Affäre aus; auf der einen Seite die erfolgshungrigen Jungautoren Clavigo und Carlos, auf der anderen Marie und ihre Schwester Sophie sowie deren Bruder Beaumarchais, der die Schwester rächen will. Es endet mit Maries Tod, sie stirbt am Kummer über den Verrat, und auch Clavigo muss sterben, durch die Hand des wütenden Bruders.
Clavigo spiegelt zweifellos Goethes eigene Lage. Mit Hilfe vor allem der männlichen Figuren führt der Dichter einen Diskurs mit sich selbst und streift Motive, die sich durch sein gesamtes Werk ziehen werden: Unschuld und Schuld, Karriere und Ehe, Versprechen und Betrug, vor allem aber die Frage nach Genie und Mittelmaß. „Möge deine Seele sich erweitern, und die Gewissheit des großen Gefühls über dich kommen, dass außerordentliche Menschen eben auch darin außerordentliche Menschen sind, weil ihre Pflichten von den Pflichten des gemeinen Menschen abgehen; dass der, dessen Werk es ist, ein großes Ganzes zu übersehen, zu regieren, zu erhalten, sich keinen Vorwurf zu machen braucht, geringe Verhältnisse vernachlässigt, Kleinigkeiten zum Wohl des Ganzen aufgeopfert zu haben.“ Wenn Carlos seinen hochbegabten Freund Clavigo darin bestärkt, Marie endgültig zu verlassen, scheint Goethe sich selbst Vergebung zu erschreiben, bestärkt er sich in seiner Egozentrik, pocht auf seine Anrechte als genialer Künstler.
Stellt man sich den jungen Clavigo heute vor, erfüllt sein Lebensstil in vieler Hinsicht das gegenwärtige Postulat von Authentizität. Er lässt sich von seinen Leidenschaften treiben, gibt Impulsen nach, innovativ und verschwenderisch, ganz Künstler. Doch der radikal Freiheitsliebende übertreibt es mit seinem Individualismus. In einer Gesellschaft, die immer noch – oder gerade wieder – Anstand und Moralität predigt, ist der Spagat zwischen Selbstverwirklichung und Konformität keine leichte Übung und „Genie“ an sich schon lange kein Wert mehr. Clavigo in seiner Hybris, seinem Hang zum Destruktiven, Egomanen, eckt dort an, wo Vernunft und moralische Integrität unangefochtene Werte sind. Das Unkonventionelle oder Querdenkende ist in der Kunst gern gesehen, im Lebensalltag dagegen nicht. In der Liebe aber gleicht es einem Sprengsatz, trifft es doch ins Herz des letzten unangetasteten Domizils bürgerlicher Übereinkünfte. Und so entpuppen sich die zahlreichen Berater des Paares, Freunde und Verwandte, Neider und Konkurrenten, als falsche Freunde, treiben die Liebenden auseinander und schließlich in den Tod: „Es war die Stunde der Spießer, die Spieler hatten endlich ausgespielt.“ (Rainald Goetz)