Geschichten wie diese hört man viel zu selten. Ja, man muss sich sogar wundern, dass es sie überhaupt noch gibt, diese Sorte Band-Biografien mit überraschender Wendung. Ein paar Abiturienten gründen eine Band, entwerfen einen coolen, internationalen Indi-Pop-Sound, schreiben Hits, die selbst im englischen Radio auf Rotation gehen, dann geht ihre Plattenfirma pleite – Ende Legende.
Eigentlich schien an dieser Stelle das Ende der Bio von Timid Tiger bereits geschrieben, der Wikipedia-Eintrag wartete scheinbar nur noch darauf, ins Präteritum redigiert zu werden. Die Lorbeeren dieser hoffnungsvollen Nachwuchs-Band waren geerntet und sie wären trotz ihres kapitalen Talents ja auch nicht die ersten gewesen, die von einer darbenden Musik-Industrie mit ins Verderben gezogen werden. Aber – zum Glück – es kam anders.
2003: Wie aus dem Nichts war das Quintett gekommen: Sänger Keshav Purushotham, Gitarrist Christian Voß, Keyboarder Evgeni Kouris, Thilo Schmelzer am Baß und Schlagzeuger Felix Günther finden sich, komponieren, meditieren über neuen Sounds. Am Ende steht die Vision einer Band. Timid Tiger wollen dem verspielten aber immer tanzbaren Indie-Pop huldigen. Ihre Songs wirbeln im feinen Gitarrenpop-Gewand über die Tanzflächen der Indie-Discos. Unerhört melodisch, agil und seltsam international. Die englischsprachigen Texte sind kleine Storytelling-Perlen, mit einer subtilen Einladung zum Mitsingen geschrieben. So erobern sich Timid Tiger schnell ein gewisses Standing. 2004 erscheint die Single Miss Murray beim Kölner Label Highcat Records, wird später von L‘age d‘or rereleased und wird zu einem Hit, der die Band über die Grenzen der Republik hinaus bekannt macht. Fräulein Murray findet sich zunächst auf einem Stapel Compilations wieder, auf Film-Soundtracks („Der Fischer und seine Frau“, „Wo ist Fred?“) und in den Rotations-Listen der Radio-Stationen – dann erobert der Uptempo-Ohrwurm die britische Insel. Mit der LP „Timid Tiger And A Pile Of Pipers“ im Gepäck machen sich die fünf auf den Weg: Konzerte folgen, Support-Shows für Graham Coxon (Blur), Festival-Gigs und schließlich die eigene Tour. Ihre Live-Qualitäten und das dichte Airplay in ganz Europa zeitigen eine üppige Fan-Gemeinde des kleinen Comic-Tigers und seiner Botschafter. Es sah ganz danach aus, als würde sich mit Timid Tiger das ganze Sehnen unparteiischer Musikfans erfüllen, endlich eine unpeinliche deutsche Pop-Band den europäischen Nachbarn präsentieren zu können. Was dann aber folgte, resümiert Sänger Keshav heute als einen „harten Schlag“. Nach zwei Jahren der Zusammenarbeit ist das Hamburger Label L‘age d‘or zahlungsunfähig, die Zukunft von Timid Tiger wird zur Insolvenzmasse.
2009: Von den Knüppeln zwischen den Beinen mühevoll befreit, melden sich Timid Tiger zurück. Endlich. „Electric Island“, das erste Album seit vier Jahren ist im gleichnamigen Studio in neuer Besetzung entstanden und weist auch musikalisch in eine neue Richtung. Mit Christopher Martin am Bass und Steffen „Steddy“ Wilmking verantwortlich für Schlagzeug und Produktion begeben sich Timid Tiger in neue Gefilde. Satter, reifer und deutlich elektronischer klingen die Songs, die nichts von den Tiger-typischen Crowd-Pleaser-Qualitäten eingebüsst und dennoch spürbar an Selbstbewusstsein und Fundament gewonnen haben. Die 12 Songs schlagen eine Brücke durch die vier Jahre der erzwungenen Schaffenspause. Vom kurzhosigen Singalong-Pop mit viel Piano („Electric Island“, „House Of Love“, „Gadget Girls“), reich an süchtig machenden Melodien, die kunstvoll arrangiert mal vom „Bab-Ba-Dah!“-Chor gesungen, mal vom Synthesizer produziert werden, über die fragile Singer-Songwriter-Ode („The Gardener“) bis zu einem Timid Tiger, der mit beiden Füßen auf dem Dancefloor Bodylocks zeigt, schwer von der R‘nB-Muse abgeknutscht („Palm Beach Bar“, „Ghost Town“). Dass Timid Tiger sich in der Vergangenheit mit viel beachteten Remixes und Mash-ups die Zeit vertrieben haben zeigt sich in den „fetten Beats“ der Produktion als auch in einer neugewonnen Perspektive. „Wir haben mit der Umbesetzung und dem Bau des eigenen Studios viel an Freiheit in der Arbeitsweise gewonnen“, erklärt Keshav. Nachdem über die Tiger-Versionen von Britneys „Womanizer“ und L. Kravitz‘ „Are you gonna go my way“ selbst New York Times und die sonst selten überschwängliche Washington Post lobhudelten, entschied sich die Gruppe zu einer Zusammenarbeit mit dem US-amerikanischen Blog „Prettymuchamazing“, die „PMA.EP“ enthielt bereits neue Songs als auch Remixe und verbreitete sich als Gratis-Download im Netz. So erschloss sich die Band ein neues Publikum: Die „PMA.EP“ wurde mehr als 30.000 mal runtergeladen. In einer Art Credo halten die fünf ihre künstlerische Perspektive folgendermaßen fest: „Wir wollen nicht spalten, sondern zusammenfu¨hren. Die Genres und Styles werden neu gemischt, zerlegt, gerecht verteilt, ergänzt und dann wieder zusammengesetzt. Ausgewählte Live Drums und fette Beats, elektrische Saiteninstrumente und knackig-knarzige Bässe. Eine Handvoll analoger Synthesizer und fiepende Keyboards. Von allem etwas.“ Die launige Mischung hat aus dem juvenilen Pop-Kätzchen ein clubtaugliches Tigertier gemacht.
Das nächste Kapitel in der zu schon Ende geglaubten Geschichte von Timid Tiger jedenfalls beginnt großartig. Eine Band findet sich neu und kämpft sich kraft ihrer Qualität wieder nach vorne. Viel Spaß beim Erzählen!