Eine dekadente Gesellschaft feiert den Geburtstag des Tetrarchen Herodes. Die Gäste stürzen sich in eine rauschhafte Orgie; Konversation findet nicht statt, denn man hört einander nicht zu, interessiert sich nicht für das Gesagte. Die Mächtigen des Hofes, Vertreter unterschiedlicher Glaubensrichtungen, sind zerstritten; man ist sich in der politischen Beurteilung des amtierenden Herrscher uneins und misstraut ihm. Der Einzelne bleibt innerhalb der Gesellschaft mit seinen Ängsten allein und isoliert. Jemand bringt sich um, doch niemand bemerkt den Selbstmord.
Die von allen sinnlich begehrte Prinzessin Salome sucht einen Moment der Ruhe innerhalb des rauschhaften Festes. Sie verabscheut ihre Umgebung. Die Verwerflichkeit ihrer Eltern Herodes und Herodias stößt sie ab. Aus dieser trotzigen Ablehnung heraus erklärt sich Salomes unbedingte Suche nach einem Halt im Leben.
Der Prophet Jochanaan, von ihrem Vater aus Angst vor seiner politischen Breitenwirkung eingekerkert, fasziniert die Prinzessin. Sie sucht seine Begegnung. Jochanaans Unbedingtheit fasziniert sie. Dieser Mann, der heftigste Kritiker am Sitten- und Werteverfall des gesamten Hofstaates, stellt eine Gegenposition dar, denn er vertritt eine konsequente Haltung, die sie selbst in ihrer Umgebung nie erfahren hat. Das unnahbare Wesen des Propheten reizt Salomes Sinnlichkeit und erweckt in ihr die Sehnsucht nach einem Leben jenseits dekadenter Oberflächlichkeit. Das Verlangen ihn zu berühren wird zu Salomes Obsession: ein Kuss und sei es von einem Toten...
Doch ist die Prinzessin Salome deshalb wirklich eine femme fatale, für die man sie durch die Jahrhunderte gerne hält? Weit gefehlt. Salome ist kein Männer mordender Vamp, als den man sie gerne darstellt. Salome will aus ihrer Umgebung ausbrechen; sie sucht nach einem Lebensinhalt. Der Prophet verkörpert für sie eine Hoffnung auf eine andere Lebensform – auf eine mögliche Zukunft. Jochanaan gehört sicherlich zu den fanatischen Anhängern der neuen Glaubensrichtung. Mitleid und verzeihende Gnade, wie sie von Jesus von Nazareth gepredigt und verkündigt werden, finden in seiner extremen Glaubenshaltung keinen Platz.
In ihrer Suche nach einem Lebensinhalt, der das bisher erlebte und erfahrene überwindet, sind sich die Prinzessin und der Prophet gedanklich nahe. Dieser Anspruch ist jedoch innerhalb der bestehenden Gesellschaftsform nicht realisierbar. Mit ihrer unbedingten Forderung nach dem Kopf des Jochanaan hofft sie, mit ihrem Opfer eins werden und die Liebe wenigstens im Tod erfahren zu können…
Die übersteigerte Atmosphäre und raffinierte Musiksprache rief 1905 bei der Uraufführung der Salome an der Dresdner Hofoper eine Schockwirkung hervor. Die Meisterschaft der Vorlage, ihre nervöse Zerfaserung und atemlos wirkende Kürze der Sprache, inspirierten den Komponisten zu einem spannungsvollen Einakter, dessen Partitur voll Klangfarbenreizen und expressiver Harmonik die rauschhaft-exzentrischen Hingabe der Prinzessin Salome an den Propheten Jochanaan musikalisch zum Ausdruck bringt.