Die Zukunft kann aber nur in einem offenen, kosmopolitischen Zugang liegen, der in einem guten Verhältnis jedes Einzelnen zur lokalen wie internationalen Gemeinschaft steht. Die Suche nach einer kritischen Balance von Individuum zur Gruppe zeichnete bereits die griechische Antike aus, um auf Basis individueller wie allgemeiner Freiheiten und Verantwortungen die Demokratie zu stärken. Das umfangreiche Projekt Europa: Antike Zukunft formuliert aktuelle Beiträge zu einer dringend nötigen Diskussion, um aus einer in die Zukunft gedachten Geschichte ein kulturell und darin politisch gedachtes Europa im Sinne einer Gleichheit in Differenz voranzubringen.
Terminologisch ist Europa zurückzuführen auf das altgriechische Eurṓpē, „die mit der weiten Sicht“, was sich aus den Wortstämmen „weit, breit“ und „Sicht, Gesicht“ ableiten lässt. In der griechischen Mythologie ist auch die Ent- und Verführung einer gleichnamigen phönizischen Prinzessin durch Zeus bekannt. Der Begriff ist heute stark mit der Europäischen Union verbunden, die vornehmlich als wirtschaftspolitischer Verbund von Nationalstaaten gesehen wird.
Schon lange werden in dessen Konzept Defizite im Bereich Demokratie, Rechtstaatlichkeit und unzureichende Transparenz in Bezug auf grundlegende Machtfragen beklagt. Was aber zunehmend außer Acht gelassen wird, ist die eigentliche Idee von Europa, deren Herkunft und Potentiale gerade im Feld der Kultur liegen. Dies erscheint in Zeiten eines wieder erstarkten Nationalismus und Populismus, der die Europäische Union aus den einzelnen Mitgliedsstaaten heraus unter Druck setzt, um so wichtiger.
Daher stellt die HALLE FÜR KUNST Steiermark anlässlich ihres institutionellen Auftakts Europa ins Zentrum ihrer Betrachtung. Das Projekt Europa: Antike Zukunft vereint ausgewählte Ideen zum Konzept Europa und beleuchtet sie abseits gängiger pragmatischer Kriterien multiperspektivisch. Im Fokus der künstlerischen Projekte stehen die Ideengeschichte, Mythen, Werte und Brüche eines – aktuell eher zurückhaltend – vereinten Europas, das jenseits seiner ökonomischen und politischen Entwicklungen als ein heiß diskutiertes kulturhistorisches Projekt mit utopischem Potential untersucht wird. Die Ausstellung forciert dabei abseits einer eurozentrischen Rezeption eine Thematisierung und Erweiterung des üblichen, oftmals verengten Blickes, um wieder verstärkt und mit durchaus kritischer Emphase für Europa ins Gespräch zu kommen.
In der Auseinandersetzung mit den philosophischen Grundpfeilern der europäischen Idee gibt das umfangreiche Werk des griechischen Universalgelehrten Aristoteles einen wichtigen Impuls. Sein auf Gleichheit und Freiheit aufbauender Zugang zur Gesellschaft, der das Individuum in einem guten Verhältnis zur Gemeinschaft und ihrer Polis sieht, erfährt jüngst neue Aufmerksamkeit: In ihrer auf den Begriff der herrschaftsfreien Egalität aufbauenden Rezeption Politische Gleichheit (2020) fordert die Politikwissenschaftlerin Danielle Allen eine aktualisierte Fassung von Demokratie, ein ausgeglichenes Zusammenleben von Individuen in einer Gesellschaft jenseits eines nationalstaatlichen Denkens. Zudem weisen die Anfänge einer Idee von Europa auf die frühen Demokratien der griechischen Antike und ihre Folgewirkungen zurück.
Vor diesem Hintergrund beschäftigt sich das Ausstellungsprojekt mit den Utopien der Vergangenheit, entwirft im Rückgriff auf antike, teils mythologische Ideen zum Verständnis von Europa eine mögliche Perfect Futur – eine Utopie, die vermutlich keinen per se progressiven Bestand haben wird, vielmehr immer schon auf ihre Vergangenheit und damit ihre Vergänglichkeit verweist.
Europa: Antike Zukunft ist somit als Gedankenexperiment zum transnationalen gemeinschaftlichen Leben im europäischen Raum gedacht und möchte eine attraktive weitere Idee eines vereinten Europas in kultureller Vielfalt, das im Sinne seiner ursprünglichen Bedeutung „auf weite Sicht“ zuversichtlich und überlegt vorausblickt, entwickeln.
Das Ausstellungsprojekt Europa: Antike Zukunft wird durch ein wöchentliches Rahmen- und Vermittlungsprogramm und eine umfangreiche Publikation ergänzt.
Kuratiert von Sandro Droschl