Zum einen ist sie selbst leidenschaftliche Gärtnerin. Sie baut in ihrem Garten Nutz- und Zierpflanzen an, verarbeitet diese, verwendet sie als Heilmittel oder genießt die „Früchte“ und hat sich ein umfangreiches botanisches Wissen angeeignet. Zum anderen erkundet sie als Gartenforscherin seit vielen Jahren die unterschiedlichsten Arten von Gärten – private Haus- und Schrebergärten, Gemeinschafts- und Hofgärten, Kloster- und botanische Gärten. Dabei gilt ihr Interesse der jeweiligen Geschichte, die jeder Garten erzählt. Denn ein Garten ist ein Ort, an dem individuelle Maßstäbe gelten und jede/r Gärtner/in ist eine Art Regisseur/in. Sie/er entscheidet, welche Gemüse- und Obstsorten, welche Zierpflanzen und Kräuter gesetzt werden, wieviel Platz diesen eingeräumt wird und wie die kleinen oder größeren Flächen gestaltet werden. Im Garten kann jede/r ihre/seine planerischen, handwerklichen und ästhetischen Talente einbringen und ein Werk schaffen, das alle Sinne anspricht. Jeder Garten ist so auch eine Spielwiese, die dem Individualismus breiten Raum gibt und ein Ort, an dem Träume und Sehnsüchte verwirklicht werden.
Als Artist in Residence streift Carmen Müller neugierig durch Gegenden, entdeckt Gärten, die sie interessieren, kommt ins Gespräch mit den Menschen, die hinter den Gärten stehen und lässt sich erzählen, welche Rolle sie im Leben dieser Personen spielen. Aus den Gärten, Wiesen und Parks nimmt sie einzelne Fundstücke und Pflanzen mit, die dann zur Inspirationsquelle ihrer künstlerischen Arbeit werden.
In ihrem Atelier setzt sie sich mit einzelnen Stücken auseinander – einer getrockneten Blüte, einer Wurzel, einem Blatt oder einem aufgeschnittenen Stück Obst. Fasziniert vom Formen- und Farbreichtum der Natur verarbeitet sie ein Motiv malerisch, graphisch oder setzt es in Stickerei um. So entstehen Serien, in denen sie sich vom Naturalistischen entfernt und den der Pflanze innewohnenden Formwillen abstrahiert und poetisiert: symmetrische, numerische und geometrische Anordnungen, ausgeklügelte Farbkompositionen, filigrane Architekturen, aber auch individuelle Besonderheiten.
2009 zeigte das Museion Bozen mit „Notizen aus Gärten“ eine umfassende Werkschau der Künstlerin zu dieser Thematik, die auf den jahrelangen Erkundungen von Gärten in Südtirol aufbaute. Seither hat Carmen Müller ihre Feldforschungen ausgedehnt und sich mit Gärten rund um Oldenburg, in Castasegna oder im Benediktinerkloster St. Johann in Müstair auseinandergesetzt. In Glurns realisierte sie im Rahmen eines Stadtentwicklungsprojekts gemeinsam mit engagierten Bewohnern und Bewohnerinnen einen Gemeinschaftsgarten, der zu einem generationsübergreifenden Raum des Austauschs von Erfahrungen und Lernprozessen rund um den Gartenbau wurde.
Für die Ausstellung im aut war Carmen Müller seit Frühjahr 2019 in und um Innsbruck unterwegs, hielt Ausschau, beobachtete, fragte nach, fotografierte, notierte und dokumentierte in öffentlichen und privaten Gärten. Die Ausstellung zeigt die Ergebnisse dieser Feldforschung anhand von Fotografien, Fundstücken, Auszügen aus Gesprächen mit Gärtnern/innen und künstlerischen Pflanzeninterpretationen. Dabei wird auch spürbar, wie die Covid-19-Zeit und vor allem der Lock-Down im Frühjahr das Verhältnis der Menschen zu ihren Gärten veränderte. Konnte man in Folge der Wirtschaftskrise der Jahre 2008/09 beobachten, dass das Interesse an Selbstgezogenem in Stadt und Land gestiegen war, so ist in diesem Frühjahr so manchem der Wert eines privaten Gartens erst wirklich bewusst geworden.