Foto © T+T Fotografie, Toni Suter + Tanja DorendorfFoto © T+T Fotografie, Toni Suter + Tanja Dorendorf

Die Spuren Attilas

Die 8. St. Galler Festspiele rufen mit Giuseppe Verdis Oper „Attila” als Freilichtproduktion den Zerfall des Römischen Reichs in Erinnerung, das Konzertpublikum wird in die Sagenwelt der Nibelungen entführt, und die Tanzproduktion „Impronte” zeigt Spuren auf, die man, sollte man auf der Suche nach neuen Wegen sein, auf keinen Fall außer Acht lassen sollte.
Museumstrasse 1/24, CH-9004 St.Gallen

Attila in der Ostschweiz?
Es liegen keine Zeugnisse vor, dass Attilas Reitertruppen jemals durch die Bodenseeregion, die Ostschweiz und den damals noch nicht existierenden Ort St. Gallen geprescht wären. Eine andere Spur Attilas lässt sich hier gleichwohl finden. Sie liegt in Form einer der wertvollsten und bedeutendsten Abschriften des Nibelungenlieds aus der Mitte des 13. Jahrhunderts in der berühmten Stiftsbibliothek der St. Gallener Kathedrale. In diesem Epos taucht Attila als König Etzel auf, dessen Charakter erheblich vom Bild des barbarischen und blutrünstigen Wüterichs abweicht, wie er aus den kirchlichen Legenden überliefert ist.
Im 18. Jahrhundert begannen sich die Historiker zum ersten Mal eingehend mit den Handschriften aus dem Mittelalter zu beschäftigen. Der Stoff faszinierte nicht nur die Wissenschaft, sondern wurde von Malern, Dichtern und Komponisten aufgegriffen und für ihre jeweiligen Zwecke eingerichtet. So entwickelte Richard Wagner aus den Sagen und Legenden seinen Ring des Nibelungen, und Giuseppe Verdi ließ sich das deutsche Schauspiel von Zacharias Werner mit dem Titel „Attila, König der Hunnen“, das von der Charakterzeichnung des Attila im Nibelungenlied inspiriert ist, ins Italienische übersetzen.
Die Spuren zu den Stoffkreisen, die Giu­seppe Verdi und Richard Wagner der­maßen faszinierten, stammen aus dem spätrömischen Reich des 4. und 5. Jahrhunderts, sie verlieren sich im Zuge der Völkerwanderungen, gehen aber durch die mündliche Überlieferung nie ganz ver­loren. Die historischen Persönlichkeiten verwandeln sich im Verlauf dieses Prozesses in Sagengestalten und leben in mittel­alterlichen Gesängen und Dichtungen weiter. Über 500 Jahre später finden sich die Helden auf Theater- und Opernbühnen wieder und heuer, im Jahr 2013, auch bei den 8. St. Galler Festspielen.

Schlachtgemälde von Giuseppe Verdi
Der Hunnenkönig Attila zieht mit seinem Heer brandschatzend durch das Römische Reich. Städte liegen in Trümmern, und das Volk befindet sich auf der Flucht. Der einstige Glanz des Imperiums ist Vergangenheit – was sich anhört wie die ideale Vorlage für einen aufwendigen Historienfilm, hat Giuseppe Verdi 1846 mit großem Erfolg als Oper am Teatro La Fenice in Venedig herausgebracht. Das Werk spiegelt an den Begebenheiten aus dem 5. Jahrhundert die innenpolitischen Schwierigkeiten, denen Italien zu Verdis Lebzeiten ausgesetzt war. Mit ausladenden Chor­szenen, rasch wechselnden Schauplätzen und Figuren, die sich nicht nur leidenschaftlich, sondern geradezu exzentrisch verhalten, haben Komponist und Librettist eine spannungsgeladene und expressive Oper gestaltet, die aufgrund der hohen Anforderungen an die Sänger und das Inszenierungsteam nur selten auf den Spielplänen zu finden ist. Dabei gehören die Melodien, in denen die Figuren ihren Gefühlen und Gedanken Ausdruck verleihen, zu den eindrucksvollsten, die im Frühwerk von Giuseppe Verdi zu finden sind.
Der italienische Regisseur Stefano Poda ist bekannt für seine atmosphärischen Gesamtkunstwerke, in denen er Inszenierung, Kostüme und Bühnenbild auf das Ge­naues­te aufeinander abstimmt. Für die Freilichtproduktion in St. Gallen hat er ein imposantes Trümmerfeld vor der Kathedrale entworfen. Das Schlachtgemälde zu Attila setzt sich aus den verfeindeten Heeren der Hunnen und Römer, verheerenden Kriegsspuren und zerstörten Artefakten, aber auch aus Zeichen der Hoffnung für eine bessere Zukunft zusammen. In der Titelfigur sind alternierend Roberto Tagliavini und Askar Abdrazakov zu er­leben. Attilas Kontrahent Ezio wird von Luca Grassi interpretiert, und als Odabella debütiert die amerikanische Sopranistin Mary Elizabeth Williams.

Tänzerische Seelenreise
Mit dem Titel „Impronte” verweist der Choreograf Marco Santi auf die Spuren des Lebens, die in der Welt hinterlassen und in seinem Tanzstück gestisch und tänzerisch thematisiert werden. Der Schlagzeuger und Komponist Heinz Lieb, der zu „Impronte” die Musik beisteuert, fokussiert den Rhythmus als das alles bewegende und bestimmende Element. Mit Klangskulpturen, die sich aus verschiedenen Kombina­tionen von archaischen Trommelmotiven zusammensetzen und die kontinuierlich mit an Sphärenklänge gemahnenden Harmonien bereichert werden, wird die Reise der Seele von den Ursprüngen bis zur Vollendung beschrieben.
Die Tänzerinnen und Tänzer geleiten das Publikum im Stück durch sieben Etappen, die durch sieben formale Abschnitte in der Komposition von Heinz Lieb wiedergegeben sind. Dabei wird der den Ablauf dominierende Rhythmus sichtbar gemacht, indem er unmittelbar in Bewegung übergeht. Dies geschieht im fließenden Zusammenspiel zwischen Schlaginstrumenten und Tänzern, die nicht nur tänzerisch, sondern auch als Musiker in das Geschehen eingebunden sind. Der Raum der Sankt-Laurenzen-Kirche wird mit dem Klang der japanischen Taiko-Trommeln von verschiedenen Größen und Klangfarben konfrontiert, sodass das Publikum ganz in die einzigartige Klang- und Bewegungswelt eintauchen kann.

Konzertprogramm
Im Jubiläumsjahr 2013, in dem mit Verdi und Richard Wagner die zwei überragenden Opernantipoden des 19. Jahrhunderts ihren 200. Geburtstag feiern, beleuchtet das Konzertprogramm der St. Galler Festspiele das Schaffen dieser beiden Komponisten von ganz unterschiedlichen Seiten.
Einen „Ring ohne Worte“ schmiedet Dom­organist Willibald Guggenmos im Orgelkonzert, und mit Giuseppe Verdis Messa da Requiem unter der Leitung von Chefdirigent Otto Tausk kommt eine der ergreifendsten Requiemsvertonungen überhaupt zur Aufführung. Wagners „Wesendonck-Lieder” sind mit der renommierten Sängerin Maria Riccarda Wesseling zu hören, und Bachs „Goldberg-Variationen” spielt der Akkordeonvirtuose Denis Patkovic. Mit dem Projekt „Round M“, Musik von und um Claudio Monteverdi, präsentieren sich Claudio Cavina und sein grandioses Ensemble La Venexiana mit einem jazzig-barocken Programm in St. Gallen. In die Welt des Hunnenkönigs Attila entführt schließlich der Wiener Clemencic Consort mit Musik aus dem „Nibelungenlied” und mittelalterlicher Musik aus den Stammesgebieten der Hunnen. Diese befinden sich in Kasachstan, der Mongolei und der Türkei.
Falls Sie nicht ganz so weit zu den Hunnen reisen wollen, dann ist der Osten der Schweiz für diesen Festspielsommer eine bedenkenswerte Alternative!
21. Juni bis 5. Juli 2013

Informationen und Tickets

Konzert und Theater St. Gallen

Museumsstraße 2/24

CH-9004 St. Gallen

Tel. +41 (0) 71/242 06 06

[email protected]

www.stgaller-festspiele.ch

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