Sir Harrison Birtwistle  © Universal Edition/Eric Marinitsch

Die Herausforderung des grünen Ritters

Einen festen Platz für die zeitgenössische Oper in Salzburg – das versprach Alexander Pereira bei seinem Amtantritt. Im zweiten Jahr seiner Intendanz bringen die Salzburger Festspiele Harrison Birtwistles Oper „Gawain” auf die Bühne, ein Werk des wichtigsten britischen Opernkomponisten unserer Tage. Es führt uns scheinbar weit zurück in die Vergangenheit, ins Mittelalter …
Herbert-von-Karajan-Platz 11, A-5010 Salzburg

Weihnachtsabend. König Artus und die Ritter seiner vorbildlichen Tafelrunde sitzen zusammen. Da dröhnen Schläge an der Tür: Ein riesiger grüner Mann mit einer Axt reitet hoch zu Pferd in die Halle und provoziert die Versammlung. Doch kein klassischer Zweikampf wird hier geboten, nein, der Wilde hat eine Axt dabei: Wo ist der tapfere Ritter, der den Grünen hier und jetzt enthauptet – und sich selbst übers Jahr und einen Tag derselben Prüfung zu stellen bereit ist? Schändlich genug, die Ritter zögern, bis schließlich Gawain, der Vorzeigeritter und galante Frauenheld des französischen und deutschen höfischen Romans, die Herausforderung annimmt. Er schlägt dem Grünen den Kopf ab, der Gawain sogleich an den zweiten Teil der Verpflichtung erinnert. Dann nimmt der Grüne sein Haupt unter den Arm und reitet davon …
Der Versroman, der uns diese brillante Handlungseröffnung offeriert, ist in einer einzigen Handschrift aus dem späten 14. Jahrhundert überliefert – und ein Klassiker der englischen Literatur, der neben Chaucer und anderen Zeitgenossen seinen festen Platz hat. Der Stoff, den Birtwistle für seine Oper wählte, ist also weit weniger entlegen, als es auf den ersten Blick den Anschein hat.
Der Stoffkomplex um König Artus und die Tafelrunde hatte sich seit dem 12. Jahrhundert an den Höfen Europas verbreitet und war in Frankreich und Deutschland als „romanz“, als Roman, zum führenden literarischen Medium des ritterlichen „Lifestyles“ einer aufsteigenden Adelsklasse geworden. Anders als in der britischen Erzähltradition, die mit dem legendären keltischen Stammesführer aus dem 6. Jahrhundert eine Art mythisch gegründeter Geschichtsschreibung etabliert, sind die Versromane fiktionale Unterhaltungsliteratur mit märchenhaften Zügen, die von der Herkunft aus keltischen Mythen zeugen. Auf diese hö­fische Romantradition eines Chrétien de Troyes oder Hartmann von Aue bezieht sich der anonyme Autor, der vermutlich aus dem nordwestlichen England stammte und theologisch gebildet war. In seiner Erzählung stellt er den Wertekodex des weltlichen Adels, der sich in den Ritterromanen bespiegelte und bestärkte, auf eine extreme Probe, die im Grunde nicht zu bestehen ist – und übte so im Gewand des Unterhaltungsromans fundamentale Kritik.
Harrison Birtwistle und der englische Dichter David Harsent, der für ihn den Roman zum Libretto verdichtete, erweitern diese Versuchsanordnung ins Überzeitliche: als Opposition zweier Welten, der Kultur und Natur, implizit auch des patriarchalen und matriarchalen Prinzips in Gestalt der aufgewerteten Gegenspielerin von König Artus, Morgan Le Fay.
Die Auseinandersetzung mit mythischen Stoffen, aber auch mit wichtigen strukturellen Aspekten des Mythos – etwa Fortschreiten und Wiederholung – bildet eine Art Ariad­nefaden durch Birtwistles umfangreiches Œuvre. Für die Proms komponierte er ein eruptives, herb jazzig angehauchtes Stück mit dem doppelsinnigen Titel Panic (ist nicht Pan, der antike Gott der Ekstase, ein würdiger Schutzpatron für den grandiosen Massenevent?), doch ebenso wie die wuchtige Klanggewalt großer Orchestersätze umfasst seine Klangwelt auch innige, lyrische Zartheit, etwa in dem Celan-Zyklus für Sopran, Kammerensemble und Streichquartett Pulse Shadow. Kontraste wie diese prägen Birtwistles Schaffen; das Nebeneinander von repetitiven Mustern, Wiederholungen und Variationen einerseits und Elementen packender Musikdramatik andererseits findet man auch in „Gawain”. Am Anfang seiner Karriere als Komponist stand Punch and ­Judy, „eine tragische Komödie oder eine komische Tragödie“ auf das englische Pendant zum Hanswurst/Kasperl-Stoff.
Seither hat Birtwistle in seinem Musikthea­ter immer wieder auf Stoffe aus alten Erzähltraditionen zurückgegriffen – etwa bei Minotaur (2008) abermals auf die Antike oder in dem 2001 in Berlin uraufgeführten „The Last Supper” auf biblische Motive.
Der Augenblick, der den Verlauf einer ­Geschichte verändert, der unaufhaltsame Verlauf der Zeit und die Idee eines Richtungswechsels – dies sind Themen, die Birtwistle faszinieren und die in „Gawain” gleichermaßen erzählerisch und musikalisch zur Darstellung kommen. Schon einmal, 1963, am Anfang seiner Laufbahn als Komponist, ließ sich Birtwistle von dem mittelalterlichen Text zu einer Komposi­tion für Chor a cappella anregen: Narra­tion: A Description of the Passing of a Year gibt einen Fingerzeig auf eine heimliche Hauptfigur der Oper: Es ist die Zeit – und der Konflikt des Menschen mit ihr. Mit heroischen Taten stemmt sich die ritter­liche Gesellschaft gegen den mythischen Kreislauf von Werden und Vergehen, doch im Angesicht des Todes werden ihre Werte fragwürdig. Entfernt sich der Mensch, der sich auf die Herausforderung von Leben und Tod einlässt, notwendigerweise aus der Gesellschaft? Und was geschieht dann? With a single step your jouney starts …

Text: Barbara Maria Zollner

Informationen
http://www.salzburgerfestspiele.at

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