Rechnitz (Der Würgeengel)Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt

Wiener Festwochen 2010 - Schauspiel

Das Tal des Erstaunens Heuer wird das Schauspielprogramm von zwei Inszenierungen des Intendanten Luc Bondy, zwei Gastspielen deutscher Inszenierungen von Stücken Elfriede Jelineks und zwei Marathonveranstaltungen geprägt. Hier die Highlights.

Sweet Nothings
Der schottische Dramatiker David Harrower hat Arthur Schnitzlers Fin-de-­Siècle-Drama Liebelei in ein heutiges eigen­williges Englisch übersetzt. Luc Bondy inszeniert es mit jungen Schauspielern am Londoner Young Vic Theatre. Zwei junge Männer aus der guten Gesellschaft sammeln Liebschaften und versuchen sich zu amüsieren, ohne Konflikt und Verpflichtung, in einer Zeit vor einem großen Krieg, in der man sich ablenken und den Moment leben und den Augenblick feiern will, was nicht immer gelingt. Fritz, die Hauptfigur des Dramas, sammelt Augenblicke, die den Duft der Ewigkeit versprühen.
10., 11., 12., 13., 14., 15. Mai, 20.30 Uhr, Halle G im MuseumsQuartier

Lipsynch
Ein Schauspielmarathon
Nach dem großen Erfolg des Solos The Andersen Project im Jahr 2009 zeigen die Festwochen nun die andere Seite von Robert Lepage: das große Theaterepos. Der Theater-, Film- und Opernregisseur Robert Lepage ist ein Erzähler heutiger Geschichten, die meistens von Alltäglichem handeln und große Fabeln des zeitgenössischen Lebens werden. In Lipsynch erzählen neun Schauspieler neun Geschichten in neun Stunden. Die Aufführung ist tragisch und komisch, erschütternd und befreiend – man kann ihr regelrecht verfallen und der Familiensaga begeistert in all die miteinander verknüpften Erzählstränge folgen. Lepage reißt die Zuschauer hinein in seine Fantasie und führt sie an jenen Ort, den Peter Brook „Das Tal des Erstaunens“ nennt. Dort herrschen ein anderes Klima, eine andere Zeit: Neun Stunden sind wie ein Flügelschlag, und jeder Mensch birgt ein Geheimnis.
12., 13., 15., 16. Mai, 13 Uhr, Halle E im Museums­Quartier

Kapusve¯tki – Friedhofsfest
Wie wenn ein Foto auf der Bühne lebendig wird, zeigt uns Alvis Hermanis die Ausschnitte verschiedener Biografien unbekannter Menschen. In einer neuen Arbeit wird sich der lettische Regisseur mit dem Verhältnis der Lebendigen zu den Toten beschäftigen, indem er die Lebenden bei ihren Totenfeiern „fotografiert“. Wenn die Letten ihre Toten beerdigen, feiern sie ein Fest mit ihnen. An Totengedenktagen ist der ganze Friedhof ein Fest. Auf den Gräbern wird getafelt, gebechert, gesungen und musiziert.
16., 17., 18., 19. Mai, 20 Uhr, Theater Akzent

Rechnitz (Der Würgeengel)
In der Nacht des 25. März 1945 feierten auf dem an der österreichisch-ungarischen Grenze gelegenen Schloss Rechnitz SS-Offiziere, Gestapo-Führer und einheimische Nazis ein „Gefolgschaftsfest“. Gastgeberin war die Gräfin Margit von Batthyány. Während dieses Fests wurden 180 ungarisch-jüdische Zwangsarbeiter von den Partygästen ermordet, aus Laune. Die Gräfin wurde strafrechtlich nie belangt, die NS-Offiziere tauchten unter. Über das Massaker von Rechnitz wurde lange geschwiegen. Elfriede Jelinek lässt Boten aus der Geschichte von den Ereignissen sprechen. Sie sprechen aus verschiedenen Schichten eines heutigen und damaligen Bewusstseins. In Jossi Wielers Inszenierung werden diese Boten zuweilen mit fünf Personen der Party identifiziert: der Gräfin Batthyány, ihrem Mädchen und drei der NS-Offiziere, die in einer Vorhölle und einem Schlossvorzimmer alles noch einmal tun.
Elfriede Jelinek hatte die Aufführung dieses Stücks für Österreich verboten und nun für die Wiener Festwochen eine Ausnahme gemacht.
22., 23., 24. Mai, 20 Uhr, Theater Akzent

Factory 2
Factory 2 ist das Reenactment des „Projekts Andy Warhol“ und des legendären Lofts in der 47. Straße in Manhattan. Regisseur Krystian Lupa und seine Schauspieler erzählen die Geschichte zweier Tage aus dem Leben der Factory, in denen Andy Warhols Experimente, das Alltägliche in Kunstform zu überführen, ein privates Drama provozieren, das in der glamourösen Boheme verborgen ist, aber nicht mehr in Kunst aufgeht. Minutiös werden Warhols Arbeiten, Filme, Performances, Improvisationen für Filmszenen und die Persönlichkeiten der Factory-Künstler nachempfunden – einschließlich des Porträts Andy Warhols, der als schüchterner und omnipräsenter Voyeur und Regisseur hinter jedem Ereignis der Factory steht. Indem er die Künstler aus einer Zeit der Utopien ins Heute spiegelt, stellt er aktuelle Fragen nach Kunst und Leben an sich und seine Künstler.
28., 29., 30. Mai, 15.30 Uhr, Halle G im Museums­Quartier

The Shipment
In ihrer „black identity-politics show“ spielt die koreanisch-amerikanische Dramatikerin Young Jean Lee mit Schamlosigkeit und bösem Witz alle Stereotypen der Selbst- und Fremdwahrnehmung von Afroamerikanern gegeneinander aus, die Klischees von der Minstrel-Show und der Stand-up-Comedy bis zum Rapper und Crackdealer. Mal mit Raffinesse, mal mit unverfrorener Direktheit unterläuft sie das politisch korrekte Überich, trickst Vorurteile aus und wirbelt die schwarzweißen Bilder durcheinander, bis wir nicht mehr wissen, ob wir lachen sollen, können, müssen oder dürfen. In comichaften Szenen wird die Geschichte eines schwarzen Jugendlichen erzählt, der ein Rapstar werden will und als Crackdealer endet.
29. Mai, 20 Uhr, 30. Mai, 18 und 21.30 Uhr,
31. Mai, 1. Juni, 20 Uhr, brut im Künstlerhaus

A jég – Ljod. Das Eis
Im heutigen Moskau ist eine geheimnisvolle Sekte unterwegs, eine Bruderschaft des Lichts, deren Mitglieder nach anderen Brüdern suchen, um in der Zukunft die falsche Schöpfung neu zu ordnen, was erst möglich sein wird, wenn die 23000 Lichtbrüder und -schwestern gefunden sind. Zunächst werden harmlose russische Bürger unverhofft von Kollegen, Freunden oder Familienmitgliedern mittels Eis­pickels getötet, ihre Brust mit Schlägen bearbeitet, und wenn ihr Herz zum Sektenbruder sprechen kann, überleben sie. Ihr Leben wird nie mehr wie vorher sein. Nach dem ekstatischen Herzkontakt erscheinen alle anderen Empfindungen schal. Leider müssen sie noch auf der von Sex und Gewalt verdorbenen Welt bleiben, um andere sprechende Herzen zu finden. Sorokin und Kornél Mundruczó zeigen osteuropäischen Alltag als einsamen Existenzkampf und totalitären Elitetraum.
2., 3., 4. Juni, 20.30 Uhr, Halle G im MuseumsQuartier

I Demoni – Die Dämonen
Ein Schauspielmarathon
Dostojewskis Roman beschreibt mit vermeintlicher Neutralität eines Chronisten die politischen und intellektuellen Bewegungen im vorrevolutionären Umbruch. Ein biederer Liberalismus der Väter wird von den radikal anarchistischen Söhnen, die in elitärem Solipsismus auch die Sozialisten verachten, unter Feuer gesetzt. Im Zentrum steht der historische Mord an ­einem Studenten, der sich von den Ideen der Anarchistengruppe entfernt hatte. Dostojewski greift dieses Ereignis auf, um die radikal anarchistischen „Dämonen“ oder „Besessenen“, wie Camus sie später genannt hat, und die Feigheit der Liberalen, die sie hervorgebracht haben, als Ausdruck der politischen Verworrenheit seines Landes zu attackieren.
Peter Stein hat sich in seiner zwölfstündigen italienischen Spielfassung die Nacherzählung der Dämonen vorgenommen. In einer Scheune, ohne Bühnenbild und Requisiten, mit 25 Schauspielern, nur mit einem Klavier und ein paar Scheinwerfern ist diese in ihrer Einfachheit bestechende Aufführung entstanden.
3., 5., 6. Juni, 11 Uhr, Halle E im Museums­Quartier

Where were you on Jan 8th?
Mit einem leisen, privaten, scheinbar um eine Bagatelle kreisenden Stück reagiert der iranische Künstler Amir Reza Koohestani auf den Terror von Militär und Polizei bei der Niederschlagung der Protestbewegung in Teheran nach den letzten Wahlen im Iran. Das Stück besteht aus Telefongesprächen zwischen vier jungen Frauen und zwei jungen Männern, die sich auf Ereignisse der vergangenen Nacht beziehen. In diesen Gesprächen wird etwas umgangen, nicht ausgesprochen.
3., 4., 5., 6. Juni, 20 Uhr, brut im Künstlerhaus

Helena
Euripides, der individualisierende Neuerer der antiken Dramatiker, hat mit seinem Helena-Stück nur noch teilweise ein antikes Drama geschrieben. Bürgerliches Ehestück und ein wenig Mantel-und-Degen-Entführungsromantik sind auch darin enthalten. Helenas ägyptischer Schutzherr ist gestorben. Sie ist an dessen Grab geflüchtet, um den Zudringlichkeiten seines Sohns zu entgehen. Denn immer noch will sie Menelaos treu bleiben, auch wenn er nicht mehr lebt. Sie hat erfahren, dass der Krieg zu Ende, dass Troja zerstört ist, dass ihr Name von den Griechen gehasst wird. Da trifft sie am Grab ihren Mann Menelaos wieder, der mit seinem Schiff und mit Helena auf der Insel gelandet ist und der sie, die wirkliche, nicht erkennt. Wem soll er jetzt verzeihen, und für wen wurde der Krieg geführt? Kann man sich mit einem Namen versöhnen? Ein Paar, das sich nach Verwerfungen und langer Trennung wieder trifft, sich neu ineinander verliebt, ist das Zentrum dieses Stücks, das die privaten, individuellen, inneren Konflikte als Kriege und als Eifersuchtsspiele der Götter veräußerlicht. Das wieder versöhnte Paar muss dem ägyptischen Königssohn entfliehen, der Helena besitzen und alle Griechen töten will.
Peter Handke hat dieses unbekannt gebliebene Helena-Stück für Luc Bondy, der es inszeniert, neu übersetzt.
9., 10., 11., 12., 13., 15., 16., 17., 19. Juni, 19 Uhr, Burgtheater

Nach Moskau, nach Moskau
Anton Tschechow verfasste seine großen Stücke auf der Krim. Drei Schwestern zeigt die bürgerliche Welt um 1900 in ihrer Erstarrung. Noch sind die Verhältnisse stabil, das Land und die Privilegien oligarchisch aufgeteilt. Aber ein Gefühl der Nutzlosigkeit hat sich breitgemacht. Die Schwestern wollen arbeiten und an der Zukunft teilnehmen, aber es fehlt an Praxis. Ihre Sehnsüchte gehen in die Ferne: „Nach Moskau, nach Moskau.“ Aber der Dramatiker kannte auch die Situation der Ärmsten des zaristischen Russland genau. In der Erzählung Die Bauern von 1897 beschreibt er scharfsichtig das russische Proletariat: Es schimpft, trinkt, ist derb und rau, analphabetisch und ungebildet, „wie Vieh“. Auch die Bauern zieht es in die Stadt, weil ihnen die Armut dort immer noch besser erscheint als das Elend auf dem Land. Frank Castorf wird beide Texte miteinander verknüpfen. Durch das Gegeneinanderschneiden der Mentalitäten von Entrechteten mit der Lethargie einer immer noch privilegierten, aber sterbenden Gesellschaft wird ein Poten­zial sichtbar, aus dem eine Revolution wurde und das einen Ausblick auf das 20. Jahrhundert eröffnet.
11., 12., 13. Juni, 19.30 Uhr, Halle E im Museums­Quartier

Kuidas seletada pilte surnud jänesele – Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt
Distanziert und ironisch zelebrierte Joseph Beuys 1965 in seiner berühmten Performance Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt ein Ritual des „Kunsterklärens“ in einer de facto stummen Aktion. Im krisengeschüttelten Estland unserer Tage kann die junge Truppe des Theaters NO99 rein gar nichts mehr erklären, sondern macht mit ihrer außergewöhnlichen Theaterperformance die Idee publik, dass Kunst sein muss, auch wenn kein Geld da ist. Das verursacht Lärm, heißt doch die Kulturministerin Hase, die ihren Landsleuten erklären muss, warum das Geld immer weniger wird. Die Regisseure Tiit Ojasoo und Ene-Liis Semper allerdings werden nicht müde zu beteuern, dass die im Stück auftretende Person, die kulturpolitisch Richtungsweisendes verkündet, keine Anleihe auf die Ministerin selbst nimmt und die Attacken der Akteure keineswegs persönlich gemeint sein können – Künstler kämpfen nun einmal um Geld, um ihre Arbeit überhaupt machen zu können.
12., 13., 14. Juni, 20.30 Uhr, Halle G im Museums­Quartier

Exhibit A: Deutsch-Südwestafrika
Im Völkerkundemuseum wird Brett Bailey reale Menschen aus Afrika ausstellen und damit das Museum als Ausstellungsraum neu deuten. Er hinterfragt die Erforschung der Ureinwohner Namibias durch europäische Anthropologen und will gleichzeitig unseren heutigen Blick auf Afrika sensibilisieren. Für Exhibit A nimmt Brett Bailey Anleihen bei den „ethnografischen Schaustellungen“, die Ende des 19. Jahrhunderts in Europa Mode waren: Nur halb bekleidet, dienten „Wilde“ der „barbarischen Unterhaltung“ und waren zugleich Symbole für die Macht der Europäer in den Kolonien.
18., 19., 20., 21., 22., 23. Mai, 19, 19.30, 20.30 und 21 Uhr, Museum für Völkerkunde Wien

Do Animals Cry
Weine, wenn du willst. Jetzt ist Familienzeit! Nur Hunde müssen draußen bleiben. Meg Stuarts neue Kreation fragt, ob wir noch Menschen zu nennen sind, und zeigt eine Gruppe von Einzelkämpfern in ­einem nachzivilisatorischen Zustand. Ihre Performer fordern das Begrüßungskommando namens Familie zu einer wilden Reanimation der Erinnerungen und noch fragmentarisch vorhandener Gefühle heraus, um am Ende alles wieder aufzulösen. In zunehmender Verrohung und trotzdem verletzlich, in grotesker Komik und Einsamkeit verführen, erniedrigen und ver­raten sie einander.
Die amerikanische Choreografin und Tänzerin Meg Stuart ist mit ihrer Kompanie eine der profiliertesten Tanzschöpferinnen der zeitgenössischen Tanzszene.
19., 20., 21., 22. Mai, 20.30 Uhr, Halle G im Museums­Quartier

more more more … future
Der kongolesische Choreograf, Regisseur und Tänzer Faustin Linyekula gehört zu den wichtigsten Erneuerern des afrikanischen Tanzes und Theaters. Das szenische Konzert more more more … future, das Linyekula mit seiner Kompanie aus Musikern und Tänzern kreiert hat, ist ein wilder Mix aus Clubnacht, Punkoper und Tanzperformance, in dem er die radikale Wut des europäischen Punks mit der lebensfrohen Energie der kongolesischen Popmusik Ndombolo kreuzt. more more more … future ist ein überwältigendes Statement gegen die Resignation, für eine positive Zukunft des Kongo.
24., 25., 26. Mai, 20 Uhr, brut im Künstlerhaus

Out of Context
Der Körper im Zustand der Hysterie und der Ekstase ist ein Motiv, das die Arbeit des flämischen Regisseurs und Choreografen Alain Platel durchzieht und ihn mehr und mehr interessiert. Der Hysterie und ihrem Ausdruck widmet er ein neues Projekt mit neun Tänzern, das sich ohne Aufwand, ohne Bühnenbild, ohne Instrumentalisten und ohne einen narrativen Rahmen auf die Geschichte des sozialen Körpers konzentriert. Er möchte die Hysterie nicht als Krankheit oder Fehlverhalten sehen, sondern als eine Hypersensibilität gegenüber der Überforderung des Lebens. Einen Körper im Stadium der Ekstase oder Hysterie zu sehen löst Angst aus. Deshalb suchen Platel und die Tänzer in diesem Projekt nach Möglichkeiten, die Intimität zwischen Zuschauer und Publikum zu verstärken und die Angst vor dem, was man sieht, zu verkleinern.
6., 7., 8., 9. Juni, 20.30 Uhr, Halle G im MuseumsQuartier

Hot Pepper, Air Conditioner, and the ­Farewell Speech
Unter dem Zug einer zu stark eingestellten Klimaanlage versuchen Büroangestellte, durch die rituellen Vorschriften der Kommunikation hindurch über ihre grotesken Arbeitsverhältnisse zu reden. Eine große Leere liegt um sie herum. In den formalen Verhaltensregeln und Sprechweisen entgleiten die Gesten einer unterdrückten Angst. Die Form wird immer gewahrt, der Anzug sitzt. Der Druck entlädt sich auf Umwegen. Toshiki Okada berichtet in einer Sprech- und Körperchoreografie über prekäre Arbeitsverhältnisse. Ihm ist in den drei Szenen dieses Abends eine berührende und erschreckende Studie der heutigen Arbeitswelt gelungen. Toshiki Okada gehört zu einer neuen Theaterszene in Tokio, die große Produktivität entfaltet.
16., 17., 18., 19. Juni, 20.30 Uhr, Halle G im ­MuseumsQuartier

Die Kontrakte des Kaufmanns. Eine ­Wirtschaftskomödie
Anlass für Elfriede Jelineks Wirtschafts­komödie waren zwei Wiener Finanzskandale: Die Gewerkschaftsbank Bawag hatte sich mit Arbeiterpensionen verspekuliert, und die Meinl-Bank hatte unter Beteiligung eines Exfinanzministers das Geld ihrer Anleger in Offshore-Zertifikaten versickern lassen. So schrieb Jelinek hellsichtig ihre hochaktuelle Farce des Wirtschaftsdebakels, noch bevor die Lehman-Pleite in den Nachrichten angekommen war. Nicolas Stemann macht aus der Textüberforderung mit sieben Schauspielern, drei Musikern, Livekamera und sich selbst eine höchst virtuose, unterhaltsame und unangestrengte Performance, die das Kölner Publikum bei der Uraufführung nach drei Stunden zu Standing Ovations aufspringen ließ. Für die erste Aufführung dieses Stücks in Österreich werden die in Köln und Hamburg reduzierten Wien­bezüge wieder herausgearbeitet.
17., 18., 19., 20. Juni, 19.30 Uhr, Halle E im ­MuseumsQuartier

forum festwochen ff Generation (Ex) Yu
forum festwochen Generation (Ex) Yu zeigt sieben Arbeiten von Künstlern aus Exjugoslawien, die in den 70er-Jahren geboren wurden. Als ihr Geburtsland zerbrach, waren sie noch jung, aber sie haben Titos Vielvölkerstaat als ihre Heimat erlebt. Dann kam der Krieg, und sie mussten sich in neuen Länderkonstrukten zurechtfinden. Ihre künstlerischen Ausdrucksweisen sind sehr unterschiedlich, jedoch thematisieren sie alle – auf direkte oder in­direkte Weise – die Lebenserfahrung in zwei oder mehreren Systemen und die daraus resultierenden Bruchlinien in der Existenz.
Etwa 300000 Menschen sind in verschiedenen Phasen aus Jugoslawien und den Nachfolgestaaten nach Wien gekommen, darunter viele Künstler. Einer von ihnen, Dejan Kalud¯jerovic´, lädt bei seiner Europoly-Installation zum Mitspielen ein. Sasˇa Asentic´ schildert in My private bio­politics seine Stellung als osteuropäischer Künstler im westeuropäisch dominierten Kulturbetrieb. In Will You Ever Be Happy Again? erinnert sich Sanja Mitrovic´ an ­ihre Kindheit. Milena Markovic´ aus Belgrad hat mit Sˇuma blista ein beklemmendes Stück über die Perspektivlosigkeit am Rand Europas geschrieben, das der Slo­wene Tomi Janezˇicˇ auf die Bühne bringt. Der Bosnier Oliver Frljic´ hat in Rijeka ­eine drastische Revue über das Phänomen „Turbo-Folk“ inszeniert. Diese Arbeiten sind im Schauspielhaus zu sehen. Das Projekt Bed and Breakfast des Künstlers und Aktivisten Alexander Nikolic findet über ganz Wien verteilt statt.
In Generacija 1992–1995 (Spielort Dschungel Wien) mit zwölf Burschen aus Zagreb im Alter zwischen 15 und 19 Jahren kommt schließlich die nächste Generation zu Wort, diejenige, die den Krieg nur aus Erzählungen kennt.

Into the City
Into the City setzt sich – in Verbindung mit unterschiedlichen künstlerischen Disziplinen – mit sozialen und gesellschaftlichen Themen der Stadt auseinander.
Ein Schwerpunkt im fünften Jahr von Into the City widmet sich aktuellen kulturellen Ausdrucksformen und Fragestellungen von Jugendlichen. Dazu gründete Into the City das Projekt „Street Academy“. Es werden viele verschiedene Workshops für junge Menschen im Bereich Jugendkultur angeboten: Rap, DJing, Slam Poet­ry, Lyrik, Breakdance, Visuals, Video-Podcast, Parkour, Beatbox, Biketrial. Neu im Programm von Into the City 2010 ist ein großes Open-Air-Konzert auf dem Wiener Rathausplatz (siehe Seite XX).

Die Abschlussveranstaltung der inszenierten Demo „Das ist mein Ding!“ findet auf dem Urban-Loritz-Platz, einem der zentralen Jugendtreffpunkte in dieser Stadt, statt.

Seit einem Jahr läuft im Gemeindebau Am Schöpfwerk mit Erfolg das Projekt „Stadt der Musik“, das den 5000 Bewohnerinnen und Bewohnern „Gebrauchs­musik“ anbietet. Im Rahmen der Wiener Festwochen 2010 werden die Wiener Sängerknaben ägyptische, türkische und österreichische Lieder der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen am Schöpfwerk erforschen und mit den Bewohnern gemeinsam singen.

Mit einem Sing-along mit Popsongs aus dem ehemaligen Jugoslawien startet auch die Eröffnung von Soho in Otta­kring, eine weitere erfolgreiche Kooperation von Into the City.

In der Ausstellung Im Paradiesgarten setzen sich neun internationale Künstlerinnen und Künstler mit den Geschichten der Menschen auseinander, die auf dem Nasch­markt arbeiten. Mit der „Ausbürgerung“ der Teilnehmer beginnt das transmediale Spiel Schwellenland des Berliner Regisseurs Jörg Lukas Matthaei. Er versetzt Teilnehmer für zehn Tage in die Situation von Flüchtlingen und vermittelt so Überlebensstrategien unter der Stadtoberfläche.

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