Reitende AmazoneDas eherne Zeitalter

Das Fundament der Kunst – die Skulptur und ihr Sockel seit Alberto Giacometti

Die Städtischen Museen Heilbronn zeigen eine umfassende Ausstellung zur Entwicklung des Sockels im 20. Jahrhundert. ­Erstmals wird die Entwicklung des traditionellen skulpturalen Unterbaus, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts entscheidende Wendungen erfährt, in einer großen Schau beleuchtet.
Deutschhofstraße 6, D-74072 Heilbronn

Die Städtischen Museen Heilbronn sind ein Mehrspartenhaus mit einem Kunst- und Skulpturenmuseum, das zu dem kleinen Reigen deutscher Bildhauermuseen zählt. Das in der Neckar- und Weinstadt im historischen Deutschhof idyllisch gelegene Museum, das 2010 durch den Bezug einer neu erbauten Kunsthalle weitere Ausstellungsflächen gewinnt, ist immer wieder mit großen Sonderausstellungen hervorgetreten. Neben der in den letzten Jahren vollzogenen Öffnung gegenüber den Gattungen Malerei, Grafik und Fotografie, die durch Ausstellungsereignisse wie Klimt – Schiele – Kokoschka (2006/07) oder George Grosz (2008) eindrucksvoll dokumentiert wurde, sind es die jährlich stattfindenden Schauen zu ausgewählten Themen der plastischen Moderne, die das Profil der Städtischen Museen Heilbronn geschärft und zu ihrem überregionalen Renommee beigetragen haben. Beispielhaft waren die Ausstellungen Der Platz – Ein Thema der Kleinplastik seit Giacometti (1995) und Maschinentheater. Figurative Kinetik seit Tinguely (2001).

Die diesjährige Herbstausstellung widmet sich einem zunächst verblüffend wirkenden Thema, dem – durchaus wörtlich zu verstehenden – „Fundament der Kunst“. Wohl erstmalig weltweit werden die Entwicklung des Bildhauersockels und seine Funktion in der Moderne derart umfassend beleuchtet. Das Thema ist außergewöhnlich, kaum erforscht und hoch spannend, da es deutlich werden lässt, wie eng die Geschichte der Skulptur mit der Frage des Sockels verknüpft ist. Seit der Antike hatte der Sockel ausschließlich dienende Funktion. Erst Bildhauer wie ­Auguste Rodin (1840 bis 1917), der die Skulptur vom Sockel holte und sie auf Augen­höhe präsentierte, und Constantin Brancusi (1876–1957), der den Sockel als gleichwertiges plastisches Pendant begriff, eröffneten dem „Unterbau“ neue Pers­pektiven, die bis ins 21. Jahrhundert hinein wirksam sind.

Die einzigartige Heilbronner Schau beginnt bei den „Pionieren“ Auguste ­Rodin, Alberto Giacometti (1901–1966) und Piero Manzoni (1933–1963). Sie sind mit richtungsweisenden Werken vertreten, darunter Das eherne Zeitalter (1876/77), die erste lebensgroße Figur von Rodin, die er auf verschieden hohen Sockeln positionierte. Des Weiteren der Kopf von Simone de Beauvoir (um 1946) und andere Sockel­skulpturen von Giacometti, die seine Wegbereiterrolle manifestieren, und die legendäre Base magica, Scultura vivente (1961) von Manzoni, die als „Fundament“ für „lebende“ Denkmäler diente und die Geschichte des Sockels als Aktionsraum begründete.

Die Ausstellung richtet den Blick aber vor allem auf die Zeitgenossen. Er zeigt, dass die Sockel-„Frage“ nach wie vor ­aktuell ist. Über 70 Werke von mehr als 50 Künstlerinnen und Künstlern veranschaulichen, wie vielfältig sich die „Begegnung“ von Sockel und Skulptur gestaltet. Sie kann pathetisch und heroisch sein, programmatisch, aber auch hintergründig, grotesk und witzig. Die Positionen von Hans Arp (1886–1966), Stephan Balkenhol (* 1957), Mark Dion (* 1961), Sylvie Fleury (* 1961), Markus Lüpertz (* 1941), Heinz Mack (* 1931), Jonathan Meese (* 1970), A. R. Penck (* 1939), ­Ulrich Rückriem (* 1938), Karin Sander (* 1957), Roman Signer (* 1938), Jean Tinguely (1925–1991), ­Didier Vermeiren (* 1951), Franz Erhard Walther (* 1939), Erwin Wurm (* 1954) und vielen anderen internationalen Künstlern belegen dies auf eindrückliche Weise.

Die auf zwei Geschossen ausgestellten Werke repräsentieren das ganze Spektrum des „Prinzips Sockel“: Der traditionelle, Distanz gebietende Sockel, wie ihn der Münchner Künstlerfürst Franz von Stuck (1863–1928) einsetzte, bildet den Ausgangspunkt der Entwicklung, die von der Minimierung über die ironische Paraphrase bis zur Überdimensionierung und einer neuen Monumentalität reicht. Als Teil der musealen Präsentationsstrategie ist der Sockel auf das Engste mit dem Ausstellungsbetrieb verknüpft: Er wird eliminiert, benutzt, eingekleidet, hinterfragt oder attackiert, ist Bestandteil des Konzepts oder verselbstständigt sich, steht, liegt oder dehnt sich im Raum aus.

So wird erfahrbar, was der aus dem Lateinischen abgeleitete Terminus Sockel meint: „Soccolus“ oder „soccus“ steht für den leichten Schuh, den man anziehen, aber auch wieder abstreifen kann. Er ist die „Basis“ der Bildhauerei, definiert Standpunkte, dient als Mittler, bewirkt die faktische und ideelle „Erhöhung“ respektive Nobilitierung und komplettiert die Präsentation. Der Sockel hält den Betrachter auf Distanz, indem er das Kunstwerk in eine andere Sphäre erhebt. Damit ist er das plastische Pendant zum Rahmen, der das Bild nicht nur be-, sondern auch abgrenzt. Der Sockel isoliert die Skulptur von der Umgebung, bereitet ihr das „Terrain“ und löst sie von ihrem Bodenbezug.

Die Themenschau provoziert grundsätzliche Fragen nach den Bedingungen der Bildhauerei: Wo endet die Skulptur, und wo beginnt der Sockel? Bringt der Sockel die Skulptur oder die Skulptur den Sockel hervor? An welchem Punkt wird das, was präsentiert wird, zu dem, was die Präsentation erst ermöglicht? Spätestens nach dem Ausstellungsbesuch in Heilbronn ist jedoch jedermann klar: Wo ein Sockel ist, muss auch Skulptur sein!

Die Ausstellung wurde in Kooperation mit dem Gerhard-Marcks-Haus Bremen (28. Februar bis 23. Mai 2010) und dem Arp-Museum Bahnhof Rolandseck (24. Juni bis 24. Oktober 2010) erarbeitet.
bis 31. Januar 2010

Der ausstellungsbegleitende Katalog Das Fundament der Kunst – Die Skulptur und ihr Sockel in der Moderne (160 Seiten, 11 wissenschaftliche Aufsätze und farbige Abbildungen aller gezeigten Exponate, Hard­cover) liegt in einer Museums- und einer Buchhandelsausgabe vor. Vorzugspreis während der Ausstellung: 25 Euro, danach 29,90 Euro. Er knüpft konzeptionell und formal an den 2005 erschienenen Heilbronner Ausstellungskatalog Die obere Hälfte. Die Büste seit Auguste Rodin an, der bereits als Standardwerk gilt.

Informationen
Städtische Museen Heilbronn
Deutschhofstraße 6,
D-74072 Heilbronn
Tel. (+49-71 31) 56-2295 und -3144
Di–Fr 10–13 und 14–17 Uhr,
zusätzlich jeden 1. Do im Monat bis 21 Uhr,
Sa, So, Fei 11–17 Uhr,
24., 25. und 31. Dezember 2009 geschlossen, alle weiteren Feiertage geöffnet
[email protected]
www.museen-heilbronn.de

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